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Alle fünf Jahre wählen die europäischen Bürger*innen, wer sie im Europäischen Parlament vertreten und für ihre Interessen in der Europäischen Union (EU) eintreten soll. Von 6. bis 9. Juni 2024 werden die Menschen in ganz Europa ihre Stimme erheben und über die Richtung entscheiden, die die EU einschlagen wird. Die Wahlen zum Europäischen Parlament spielen eine entscheidende Rolle für die Zukunft und das tägliche Leben von Millionen Menschen. In Österreich finden die EU-Wahlen am 9. Juni 2024 statt.
Das Europäische Parlament ist das einzige direkt gewählte Organ der Europäischen Union. Seine Mitglieder werden seit 1979 alle fünf Jahre europaweit gewählt. Es ist eines der beiden gesetzgebenden Gremien der EU. Zusammen mit dem Rat der Europäischen Union, in dem die nationalen Regierungen vertreten sind, nimmt es Legislativvorschläge der Kommission an, kann diese ändern und über den EU-Haushalt entscheiden. Außerdem überwacht es die Arbeit der Kommission und der anderen EU-Einrichtungen wie beispielsweise der Grenzschutzagentur Frontex.
Das Europäische Parlament stimmt über den überwiegenden Großteil aller Gesetzestexte ab und kann somit die Menschenrechte in der EU sowie international verteidigen und voranbringen oder auch schwächen, wenn es diese nicht ausreichend im Blick hat oder sich keine Mehrheiten für den Schutz der Menschenrechte finden. Amnesty International beobachtet derzeit eine Reihe von Tendenzen, die die Menschenrechte auch in Ländern der EU, einschränken und in Frage stellen. Die EU-Wahl ist daher von entscheidender menschenrechtlicher Bedeutung.
Um eine bessere, gerechtere und nachhaltigere Zukunft zu schaffen, muss die Europäische Union die Menschenrechte in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. Das Manifest von Amnesty International zu den EU-Wahlen enthält die zentralen menschenrechtlichen Ziele und Maßnahmen für innere und äußere Angelegenheiten der EU.
Die Forderungen und Empfehlungen richten sich an Kandidat*innen und Wähler*innen, die ein Europa wollen, in dem jeder Mensch seine Rechte genießt. Und ein Europa, das für die Stärkung der Menschenrechte weltweit eintritt. Dafür betrachtet Amnesty International die folgenden Aspekte als entscheidend:
Amnesty International tritt für eine Europäische Union ein, in der alle Menschen ihre Rechte wahrnehmen und ihren Stimmen innerhalb einer gleichberechtigten und inklusiven Gesellschaft Gehör verschaffen können.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen den Menschenrechtsschutz in Politik und Praxis verbessern, insbesondere in Bezug auf die besonderen Herausforderungen, mit denen Frauen und Mädchen, LGBTQIA+ Personen, Menschen, die von Rassismus betroffen sind, Migrant*innen und Asylwerber*innen sowie Sexarbeiter*innen konfrontiert sind. Dazu braucht es EU-Rechtsvorschriften zum Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Behinderung, Religion oder Weltanschauung, sexueller Orientierung und Alter, und beim Zugang zu sozialen Rechten, Bildung sowie Wohnraum.
Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gehören zu den Grundpfeilern jeder offenen, pluralistischen Gesellschaft. Nach der EU-Grundrechte-Charta sind alle EU-Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, sie zu wahren.
Doch seit einigen Jahren werden in mehreren EU-Mitgliedsstaaten zivilgesellschaftliche Handlungsräume verengt und politische Grundfreiheiten systematisch eingeschränkt: Protestierende werden kriminalisiert, die Meinungsfreiheit beschnitten und unabhängige Medien angegriffen.
Dringend notwendig ist daher die Entwicklung einer ehrgeizigen EU-Strategie zum Schutz des zivilen Raums, die in enger Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft erarbeitet werden muss. Die EU muss Menschenrechtsverteidiger*innen zuhören, ihre Legimität stärken und für ihren Schutz in der EU sorgen.
Der Kampf für Rechtsstaatlichkeit muss weiterhin in ganz Europa beherzt geführt werden, um Verstößen der Mitgliedstaaten entgegenzuwirken. Dabei müssen alle verfügbaren Instrumente eingesetzt werden, wie zum Beispiel Vertragsverletzungsverfahren und Verfahren gemäß Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union.
Zentral ist auch die Durchsetzung der bestehenden EU-Gesetze zu Künstlicher Intelligenz. Der Schutz von Menschen, die von KI-Systemen betroffen sind, muss gewährleistet werden. Gesetzeslücken müssen identifiziert und geschlossen werden. Dem Missbrauch von Spionagetechnologien, mit denen in der Vergangenheit auch Aktivist*innen und Journalist*innen in EU-Ländern ausgespäht wurden, muss ein Ende gesetzt werden.
Für alle Menschen in Europa muss ein gleichberechtigter Zugang zur Justiz und zu einem fairen Verfahren vor unabhängigen Gerichten sichergestellt sein – frei von politischer Einflussnahme.
An den europäischen Außengrenzen werden menschenrechtliche Standards seit Jahren systematisch missachtet. Wenn Geflüchtete versuchen, in Europa Schutz zu finden, erwartet sie regelmäßig willkürliche Gewalt oder sogar der Tod. Völkerrechtswidrige Pushbacks sind an der Tagesordnung, ohne dass die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge einschreitet. Der Zugang zu fairen Asylverfahren in Europa ist dadurch erheblich erschwert. Weiterhin sind Schutzsuchende und ihre Unterstützer*innen einem erheblichen Risiko der Kriminalisierung ausgesetzt. Wenn Menschen es schaffen, in Europa Asyl zu beantragen, sind die Aufnahmebedingungen oft katastrophal. Ihr Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Rechten, etwa zum Recht auf Wohnen oder der Zugang zu Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen sind häufig von Diskriminierung geprägt.
Erst kürzlich hat sich die EU auf eine Reform des Asylrechts geeinigt. Die Reform wird zu mehr Leid, mehr Gewalt und mehr Pushbacks führen. Viele Schutzsuchende sollen künftig in sogenannten „Grenzverfahren“ an den Außengrenzen inhaftiert werden. In „Krisensituationen“ sollen diese Grenzverfahren massiv ausgeweitet werden können. Auf eine faire Verantwortungsteilung innerhalb der EU konnten sich die Mitgliedstaaten nicht einigen, stattdessen soll zukünftig mehr Verantwortung auf „sichere Drittstaaten“ ausgelagert werden. Dabei werden die Voraussetzungen, wann ein Drittstaat als „sicher“ bezeichnet werden kann, erheblich abgesenkt. Zusätzlich setzt die EU verstärkt auf Migrationskooperationen mit Drittstaaten. Bestehende EU-Migrationskooperationen mit der Türkei, Libyen oder Tunesien haben den Zugang zum Asylverfahren in Europa deutlich erschwert, unter Inkaufnahme schlimmster Menschenrechtsverletzungen.
Das Europäische Parlament muss sich dafür einsetzen, dass die Umsetzung der EU-Asylrechtsreform nach den höchstmöglichen menschenrechtlichen Standards erfolgt. Das Europäische Parlament sollte außerdem alle zur Verfügung stehenden Kontrollmechanismen nutzen, um sicherzustellen, dass Migrationskooperationen klare menschenrechtliche Kriterien und Überprüfungsmechanismen enthalten und Kooperationen ausgesetzt werden, wenn sie zu weiteren Menschenrechtsverletzungen beitragen. Das Europäische Parlament sollte sich außerdem deutlich gegen die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten positionieren.
Amnesty International fordert, dass die Europäische Union in ihren Beziehungen zu Drittländern und in multilateralen Foren Menschenrechten, Gerechtigkeit und der Rechenschaftspflicht für Menschenrechtsverletzungen Vorrang einräumt.
Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sollten sich in ihren Beziehungen zu anderen Ländern stärker für die Menschenrechte einsetzen und diese für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung ziehen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben das Potenzial, als echte Vorkämpfer*innen der Menschenrechte weltweit aufzutreten. Entscheidend ist, dass sie die Menschenrechte in den Mittelpunkt ihrer Außenpolitik stellen und ihren Menschenrechtsverpflichtungen konsequent nachkommen – als Ausdruck der Werte und Interessen der EU. Ein „Business-as-usual“ in den Beziehungen zu Drittländern, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen begangen werden, führt nur dazu, dass Verstöße ungestraft bleiben und repressive Staaten ermutigt werden, die Grundlagen des internationalen Menschenrechtssystems in Frage zu stellen. Insbesondere Kooperationsabkommen im Bereich der Migration mit Nachbarländern wie Tunesien, Libyen und der Türkei müssen überprüft werden, um sicherzustellen, dass sie nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitragen.
Die EU muss sicherstellen, dass ihre Zusammenarbeit mit anderen Ländern nicht zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder anderen Verbrechen nach dem Völkerrecht beiträgt. Sie muss dazu ihre Bemühungen im Bereich der Justiz und Rechenschaftspflicht verstärken, um ein robustes, konsistentes und kohärentes EU-Engagement in zahlreichen aktuellen Konflikten und Menschenrechtskrisen zu gewährleisten, einschließlich der besetzten palästinensischen Gebiete, der Ukraine, des Iran und des Sudan.
Die EU muss sich jetzt verstärkt für die Universalität der Menschenrechte und das internationale Menschenrechtssystem einsetzen. Es ist jetzt von entscheidender Bedeutung, sich gegen alle Angriffe auf internationale Menschenrechtsstandards und auf den internationalen Menschenrechtsrahmen zur Wehr zu setzen und sicherzustellen, dass die EU und das Europäische Parlament ihr gesamtes politisches Gewicht zur Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), des Internationalen Gerichtshofs (IGH) und anderer Bemühungen um internationale Justiz in allen Kontexten einsetzen.
Nach Angaben des Weltklimarats, einem zwischenstaatlichen Ausschuss des UN-Umweltprogramms und der Weltorganisation für Meteorologie, hat sich seit Beginn der Industrialisierung (Referenzjahre 1850-1900) die Erde bereits um durchschnittlich 1 Grad Celsius erwärmt. Der Weltklimarat sagt einen exponentiellen Temperaturanstieg um mehrere Grad voraus, wenn die Anstrengungen im Kampf gegen die Klimakrise nicht verstärkt werden.
Eine steigende Zahl von extremen Wetterereignissen wie Überschwemmungen, Dürren und Hitzewellen haben bereits jetzt gravierende Auswirkungen. Unzählige Menschen weltweit sind davon betroffen. Die Klimakrise bedroht unsere Menschenrechte, am stärksten das Recht auf Leben, Gesundheit, Wohnen, Zugang zu sauberem Wasser und Hygiene, angemessene Ernährung und Selbstbestimmung.
Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, Menschen vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, die durch die Folgen der Klimakrise verursacht werden. Die EU muss daher alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfen, um Emissionen zu reduzieren und somit die Auswirkungen der Klimakrise innerhalb und außerhalb der EU zu mildern.
Die EU hat das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 ratifiziert. Ziel des Abkommens ist, die Erderwärmung auf unter 2 Grad und möglichst unter 1,5 Grad Celsius zu reduzieren. Eine Begrenzung auf 1,5 Grad würde die Risiken und katastrophalen Menschenrechtsfolgen des Klimawandels deutlich vermindern.
Die EU legt regelmäßig verbindliche Klimaziele für ihre Mitgliedstaaten fest. Das "Fit for 55" Maßnahmen-Paket der Europäischen Kommission zielt darauf ab, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen. Zusätzlich wurde im Juli 2021 das europäische Klimagesetz beschlossen, dass das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 rechtlich verankert und den Weg für eine nachhaltige und gerechte Transformation der EU-Wirtschaft ebnen soll. Das "REPower EU"-Maßnahmenpaket zielt darauf ab, den europäischen Energiemarkt unabhängiger von russischen fossilen Brennstoffen zu machen und die Energiewende zu beschleunigen.
Allerdings leistet die EU gemessen an den Klimazielen des Pariser Abkommens und ihrer aktuellen und historischen Verantwortung für den Klimawandel keinen angemessenen Beitrag zum globalen Klimaschutz. Eine gerechte, menschenrechtsbasierte Klimapolitik erfordert deutlich ambitioniertere Klimaziele und Maßnahmen der EU im Einklang mit dem 1,5 Grad-Ziel. Zusätzlich steht die EU in der Verantwortung, Länder des globalen Südens beim Klimaschutz und der Bewältigung von Klimafolgen zu unterstützen. Zentral dabei ist, dass alle Maßnahmen im Einklang mit den Menschenrechten stehen.
Das Europäische Parlament sollte sich dafür einsetzen, dass die Menschenrechtsdimension der Klima- und Umweltkrise in vollem Umfang anerkannt wird. Es sollte darauf hinwirken, das Menschenrecht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt in die EU-Grundrechtecharta aufgenommen wird.
Das Europäische Parlament muss einfordern, dass die Mitgliedstaaten die festgesetzten Klimaziele auch einhalten. Es sollte Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen innerhalb und außerhalb der EU unterstützen, die an vorderster Front für Klimagerechtigkeit eintreten, und dafür zunehmend mit Einschränkungen und Bedrohungen für ihr Leben konfrontiert sind. Dem Schutz von Klima- und Umweltschützer*innen als wichtigen Akteur*innen für Veränderung muss dringend Priorität eingeräumt werden.