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Vier Jahre nach den Massenprotesten ist die Demokratiebewegung in Belarus zwar angeschlagen, aber nicht gebrochen. Trotz der Repressionen lebt der Widerstand im Verborgenen und im Exil weiter und sucht nach neuen Strategien, um Belarus zur Demokratie zu verhelfen.
Am 24. Februar 2024, dem Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine und kurz vor den belarussischen Parlamentswahlen, erscheint plötzlich das Bild der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja auf Werbetafeln in Minsk, Belarus. „NEIN zu gefälschten Wahlen“, verkündet Tichanowskaja auf über 2.000 Bildschirmen in Einkaufszentren, der Metro und den Straßen der Stadt.
Und dann, so schnell wie ihr Bild aufgetaucht ist, verschwindet es wieder – ein flüchtiger Moment des Widerstands, organisiert von Hacker*innen aus der Demokratiebewegung.
Solch öffentlicher Protest ist im heutigen Belarus zur Ausnahme geworden. Seit den Massenprotesten von 2020 gelang es dem Machthaber Alexander Lukaschenko, jede Form offener Kritik mit Gewalt zu unterdrücken und Protest von der Straße zu verbannen.
Vor vier Jahren schienen sich die Dinge in eine andere Richtung zu entwickeln. Nach der Inhaftierung ihres Mannes kandidierte Swetlana Tichanowskaja, bis dahin Hausfrau, bei den Präsidentschaftswahlen. Lukaschenko nahm sie als Gegenkandidatin nicht ernst. Währenddessen hielt Tichanowskaja im ganzen Land Wahlkampfveranstaltungen ab und gewann immer mehr Anhänger*innen.
Zehntausende kamen zu ihren Veranstaltungen. Es wehte ein frischer Wind. Man konnte in Belarus eine gewisse Freiheit spüren.
Hanna Liubakova, belarussische Journalistin
Belarus erlebte eine Welle der Hoffnung. Und nach zahlreichen Anschuldigungen wegen manipulierter Präsidentschaftswahlen gingen Hunderttausende auf die Straße. Gekleidet in Weiß und mit Blumen in den Händen, trotzte die Bevölkerung dem sogenannten „letzten Diktator Europas“.
Doch die Euphorie war nur von kurzer Dauer. Es folgte eine brutale Zerschlagung der Proteste: Die Regierungstruppen gingen mit Tränengas, Blendgranaten, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen die friedlichen Demonstrierenden vor. In manchen Städten kamen sogar Schusswaffen zum Einsatz.
In den folgenden Monaten wurden mehr als 35.000 Menschen willkürlich verhaftet, nachdem sie protestiert hatten. Mitglieder der Opposition wurden entweder ins Exil gezwungen oder verhaftet.
Dieses Vorgehen hat eine Atmosphäre der Angst und Unterdrückung geschaffen, die das Land weiterhin fest im Griff hat. Unabhängigen Organisationen zufolge gibt es in Belarus immer noch mindestens 1.500 politische Gefangene. Viele von ihnen befinden sich in Einzelhaft ohne Kontakt zur Außenwelt und erleiden Folter.
Was ist also heute von den Protesten 2020 und der Hoffnung auf Demokratie in Belarus geblieben?
Die diesjährigen Parlamentswahlen markierten die ersten Wahlen seit 2020. Doch von einer tatsächlich demokratischen Wahl war wenig zu erkennen. Aktivist*innen wurden im Vorfeld der Wahlen massenhaft inhaftiert, unabhängige Medien haben im Land keine Möglichkeit mehr zu berichten und auf dem Stimmzettel standen ausschließlich regierungsfreundliche Kandidat*innen.
„Jeder weiß, dass diese Wahl eine Farce war“, sagt Liubakova. „Es ist eine typische Strategie von Diktatoren, Wahlen zu inszenieren, um ihre vermeintliche Legitimität zu unterstreichen.“
Gleichzeitig ist es für Bürger*innen wesentlich schwieriger geworden, ihre Unzufriedenheit in der Öffentlichkeit zu äußern, erklärt Hanna Liubakova.
Die Konsequenzen für Proteste sind viel drastischer geworden. Man riskiert Jahre im Gefängnis. Das ist ein zu hoher Preis. Deshalb sind die Menschen einfach in den Untergrund gegangen.
Hanna Liubakova, belarussische Journalistin
Als Folge der Repressionen befindet sich heute ein Großteil der belarussischen Demokratiebewegung im Ausland. Von dort aus versuchen sie, Aufmerksamkeit für ihre Sache zu gewinnen, indem sie über Menschenrechtsverletzungen in Belarus berichten und um Unterstützung durch westliche Staaten sowie internationalen Organisationen werben.
Ein zentrales Organ ist dabei der Koordinierungsrat, der auf Anregung von Swetlana Tichanowskaja während der landesweiten Proteste im Jahr 2020 eingerichtet wurde. Ziel des Rats ist es, die Interessen der Opposition zu vertreten und sich für demokratische Wahlen und einen friedlichen Machtwechsel in Belarus einzusetzen.
Eine der größten Herausforderungen bei der Arbeit der belarussischen Opposition im Exil sei es, die Einheit sowohl in den eigenen Reihen als auch mit der Bevölkerung in Belarus aufrechtzuerhalten, so Liubakova:
Die Prioritäten der Menschen in Belarus ändern sich, denn sie können nicht jeden Tag sagen, dass sie Lukaschenko bekämpfen müssen. Sie müssen überleben.
Hanna Liubakova, belarussische Journalistin
Sie leben in einer Diktatur. Diejenigen, die im Exil leben, befinden sich in einer anderen Situation. In gewisser Weise ist es für sie einfacher, weil sie sagen können, was die Menschen in Belarus nicht sagen können.“
Unterdessen hat der Krieg in der Ukraine einen langen Schatten auf Belarus geworfen. Während Lukaschenko den russischen Präsidenten Putin unterstützt, zeigten sich viele Belarus*innen solidarisch mit der Ukraine.
Nach der russischen Invasion in die Ukraine kam es in Belarus zu Demonstrationen gegen den Krieg. Inzwischen kämpft sogar eine unabhängige Division belarussischer Soldat*innen an der Seite der ukrainischen Armee.
Doch die Repressionen hielten an: Mindestens 2.600 Menschen wurden verhaftet und bestraft, weil sie sich mit der Ukraine solidarisch zeigten. So wurde beispielsweise vergangenes Jahr eine Frau verurteilt, nachdem sie in einem Café in Minsk ein ukrainisches Lied sang.
„Das Regime spricht offen davon, dass jetzt Säuberungen im Land stattfinden – genau wie zu stalinistischen Zeiten“, sagt Olga Shparaga, belarussische Philosophin und Mitbegründerin der feministischen Gruppe im Koordinierungsrat.
Soziale Medien haben sich zu einem wichtigen Instrument entwickelt, um die staatliche Propaganda in Belarus zu umgehen. Vor allem Belarus*innen im Exil veranstalten regelmäßig Online-Diskussionen und bieten politischen Aktivist*innen eine Plattform.
Der Zugriff auf diese Informationen hinterlässt Spuren, die Nutzer*innen in Gefahr bringen. Alle Inhalte, die mit unabhängigen Medien oder der Opposition in Verbindung gebracht werden können, werden als „extremistisch“ eingestuft – ob Fotos, Websites oder Telegram Kanäle. Im heutigen Belarus können Menschen für den Zugriff auf diese Inhalte für mehrere Jahre im Gefängnis landen.
Trotz dieser Risiken suchen Menschen in Belarus weiterhin nach unabhängigen Informationen, erklärt Shparaga: „Das ist immer noch ein Beweis dafür, dass die Menschen gegen Lukaschenko sind.“
Sie beschreibt die aktuelle Situation mit dem Konzept der „weak resistance“ (fragiler Widerstand), einer Form des Protests, die oft im Verborgenen stattfindet.
Dieser Widerstand ist breit angelegt und äußert sich in vereinzelten Protestformen oder symbolischen Gesten, wie dem verdeckten Tragen von Kleidung oder Accessoires in den Farben der belarussischen Unabhängigkeitsflagge (weiß und rot) oder dem Boykott von Wahlen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Gemeinschaftssinn. Besonders auffällig bei den Protesten von 2020 war, dass nicht nur etablierte Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft eine führende Rolle spielten, sondern auch eine große Anzahl von Menschen, die bisher nicht politisch aktiv waren.
Dadurch entstanden neue Formen der Vernetzung, die es den Menschen ermöglichten, sich gegenseitig zu unterstützen. Das damit verbundene Bewusstsein für Gemeinschaft und Solidarität ist auch heute noch spürbar, so Shparaga:
„Die Offenheit und Hilfsbereitschaft der Menschen war das eigentliche Wunder, und diese Dynamik hat sich bis heute fortgesetzt. Diese Verbindungen zwischen den Menschen werden weiterhin Bestand haben und die Grundlage für eine andauernde Veränderung bilden. Lukaschenko hat genau davor Angst.“
Trotz der Unterdrückung durch die Regierung haben viele Menschen weiterhin die Hoffnung auf Veränderung, berichtet Olga Shparaga: „Sie warten darauf, den Moment zu ergreifen und sich wieder auf die Straße zu begeben, um für ihre Rechte und eine freie Zukunft zu kämpfen.“
Text: Antonio Prokscha
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