Sachlage
Olivier Vandecasteele ist ein belgischer Entwicklungshelfer, der viele Jahre im Ausland gearbeitet hat, unter anderem von 2015 bis 2021 für die Norwegische Flüchtlingshilfe und Relief International im Iran. Laut seiner Familie kehrte er im Mai 2021 nach Belgien zurück und reiste im Februar 2022 erneut in den Iran, um seine Wohnung aufzulösen. Nachdem er auf dieser Reise in Teheran festgenommen worden war, wurde Olivier Vandecasteele ins Evin-Gefängnis verbracht, wo man ihn drei Monate lang ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand Verhören unterzog und folterte und anderweitig misshandelte, unter anderem durch Einzelhaft in einem rund um die Uhr hell erleuchteten Raum. In dieser Zeit setzten ihn die Gefängnisbehörden zudem extremer Kälte und Schikanen aus, indem sie ihm monatelang Socken und Schuhe verweigerten.
Am 10. Januar 2023 gaben iranische Staatsmedien bekannt, dass Olivier Vandecasteele durch ein Revolutionsgericht in Teheran zu 40 Jahren Gefängnis, 74 Peitschenhieben und einer Geldstrafe verurteilt wurde. Das Gericht sprach ihn unter anderem der "Spionage für ausländische Geheimdienste", der "Kollaboration mit einer feindlichen Regierung [USA]", der "Geldwäsche" und des "gewerbsmäßigen Geldschmuggels in Höhe von umgerechnet 470.000 Euro" schuldig. Gemäß der iranischen Strafzumessung stünde ihm eigentlich eine Haftstrafe von zwölfeinhalb Jahren bevor. Seine Gerichtsverhandlung, die insgesamt nur 30 Minuten dauerte, fand Mitte November 2022 statt und verlief grob unfair. Sein Recht auf ein faires Verfahren wurde ebenso wie sein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl, eine angemessene Verteidigung, eine ernsthafte Anfechtung der Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung und ein Verfahren vor einem unabhängigen, fähigen und unparteiischen Gericht grob verletzt. Es ist nicht bekannt, ob Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt wurden.
Haftbedingungen
In kurzen und seltenen Telefonaten, die vermutlich im Beisein von Geheimagenten stattfanden, erfuhren seine Angehörigen, dass Olivier Vandecasteele seit seiner Verlegung an einen unbekannten Ort im August 2022 nur 15 Minuten pro Tag die Einzelhaft verlassen und allein in einem Hof umhergehen darf. Er wird von den Behörden in einer fensterlosen Kellerzelle in Einzelhaft festgehalten, in der ebenfalls rund um die Uhr grelles Licht eingeschaltet ist. Jeglicher Kontakt zu anderen Menschen wird ihm verwehrt. Zu Treffen mit Konsulatsvertreter*innen wird er mit verbundenen Augen vorübergehend ins Evin-Gefängnis verlegt. Die Bedingungen seiner Isolationshaft verursachen ihm großes Leid. Seinen Angehörigen berichtete er, dass er seit seiner Festnahme 25 Kilo abgenommen habe und seine Zehennägel ausgefallen seien, was Anlass zu schwerer Besorgnis bezüglich seiner Gesundheit gibt. Später erfuhren seine Angehörigen zudem, dass sich an seinen Zehen Blutblasen bilden und er an Zahn- und Magenproblemen leidet. Olivier Vandecasteele wurde ein einziges Mal zu einem Zahnarzt gebracht, der ihm sagte, dass eine zweite Untersuchung erforderlich sei, für die die Behörden noch einen Termin vereinbaren müssten. Überdies erhält er kein nahrhaftes Essen und weder Obst noch Gemüse.
Aus Protest gegen seine anhaltende willkürliche Inhaftierung begann Olivier Vandecasteele am 15. November 2022 einen Hungerstreik, der bis Anfang Dezember 2022 dauerte. Bei einem Treffen mit Konsulatsvertreter*innen berichtete Olivier Vandecasteele, dass man ihn ohne unabhängigen Rechtsbeistand seiner Wahl vor Gericht gestellt habe. Vor Gericht verlangte er nach der Anwesenheit einer*s belgischen Konsulatsvertreter*in, worauf der Richter erwiderte: "Sie wollen nicht kommen." Olivier Vandecasteele sagte, man habe ihn anschließend aufgrund der gegen ihn erhobenen Anklagepunkte verurteilt. Am 13. Dezember 2022 teilten der belgische Premierminister und der Justizminister der Familie von Olivier Vandecasteele mit, sie hätten erfahren, dass man ihn schuldig gesprochen und zu 28 Jahren Haft verurteilt habe. In späteren Telefonaten mit seiner Familie berichtete Olivier Vandecasteele, dass ihn die iranischen Behörden Mitte Dezember 2022, mit Handschellen und Fußketten gefesselt, ein zweites Mal vor Gericht gestellt hätten. Er glaube, dass der einzige Zweck dieser Verhandlung gewesen sei, den Ablauf zu filmen, da er bemerkt habe, dass sich eine Kamera und ein Filmteam im Gerichtsaal befanden. Sein gewählter Rechtsbeistand erhält keinen Zugang zu Olivier Vandecasteeles Verfahrensakte oder seinem Urteil, und seine Familie geht davon aus, dass sein von der Regierung benannter Rechtsbeistand, den zu akzeptieren ihn die Behörden gezwungen haben, keine Rechtsmittel gegen seine Verurteilung und das Strafmaß eingelegt hat.
Inhaftierung folgt einem Muster
Das Verschwindenlassen des 42-jährigen Belgiers Olivier Vandecasteele durch die iranischen Behörden ist ein Völkerrechtsverbrechen. Sein Aufenthaltsort ist weder seiner Familie, noch seinem Rechtsbeistand oder Vertreter*innen der belgischen Botschaft bekannt. Darüber hinaus ist er der Folter und anderen Formen der Misshandlung ausgesetzt. Es häufen sich Beweise, darunter öffentliche Stellungnahmen belgischer Regierungsvertreter*innen und private Äußerungen iranischer Behördenvertreter gegenüber Olivier Vandecasteele, die die Befürchtung verstärken, dass er von den iranischen Behörden als Geisel festgehalten wird.
Olivier Vandecasteeles willkürliche Inhaftierung reiht sich ein in das umfassend dokumentierte Muster der iranischen Behörden, Doppelstaatsbürger*innen und ausländische Staatsangehörige als Druckmittel willkürlich festzunehmen, worauf die UN-Sonderberichterstatterin über die Lage der Menschenrechte im Iran – zuletzt in einem Bericht vom Juli 2022 – sowie die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen hingewiesen haben. Aussagen vonseiten des belgischen Justizministers vom 14. Dezember 2022, wonach Olivier Vandecasteeles Inhaftierung eine direkte Folge der Verurteilung von Assadollah Assadi sei, einem früheren iranischen Diplomaten, der wegen seiner Beteiligung an einem vereitelten Bombenanschlag auf eine Versammlung in Frankreich im Jahr 2018 eine 20-jährige Haftstrafe in Belgien verbüßt, steigerten die Besorgnis, dass Olivier Vandecasteele festgehalten wird, um die belgischen Behörden zu einem Gefangenenaustausch zu nötigen.
Amnesty International erfuhr auch, dass iranische Staatsvertreter*innen Olivier Vandecasteele im Jahr 2022 mehrmals vertraulich darauf hinwiesen, dass sich Belgien in Bezug auf ein bilaterales Abkommen zwischen dem Iran und Belgien, das die Überstellung verurteilter ausländischer Staatsangehöriger in ihr Heimatland gestatten würde und das vom belgischen Parlament im Juli 2022 verabschiedet wurde, "zu langsam bewege". Das bilaterale Abkommen zwischen Belgien und dem Iran wurde in einem Kontext abgeschlossen, in dem die iranischen Behörden laut Auslassungen vonseiten der belgischen Behörden sowie Medienberichten versuchten, eine "Abmachung" mit Belgien zu treffen, um willkürlich inhaftierte ausländische Staatsangehörige und Doppelstaatler*innen im Iran auszutauschen. Am 18. Dezember 2022, fünf Tage nachdem sie Olivier Vandecasteeles Familie von seiner Verurteilung und seinem Strafmaß informiert hatte, veröffentlichte die belgische Regierung eine Erklärung, in der sie alle belgischen Staatsangehörigen im Iran aufforderte, das Land zu verlassen, da sie "in großer Gefahr seien, festgenommen, willkürlich inhaftiert und einem unfairen Gerichtsverfahren unterzogen zu werden".
Angesichts der Praxis der iranischen Behörden, inhaftierte ausländische Staatsangehörige und Doppelstaatler*innen als Druckmittel einzusetzen, hat Amnesty International sämtliche Staaten, deren Staatsangehörige im Iran inhaftiert sind oder dies irgendwann einmal waren, wiederholt dazu aufgefordert, unverzüglich zu überprüfen, ob diese Freiheitsberaubung mit einem Akt der Geiselnahme gleichzusetzen ist, und wenn ja, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechenschaftspflicht zu gewährleisten. Nach dem Internationalen Übereinkommen gegen Geiselnahme bezieht sich das Verbrechen der Geiselnahme auf die Ergreifung oder Gefangennahme einer Person, begleitet von Drohungen, dieser Schaden zuzufügen, unter anderem durch Verletzung, dauerhafte Gefangennahme oder Tötung, um eine dritte Partei wie etwa einen Staat dazu zu zwingen, als explizite Bedingung für die Freilassung der Geisel etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Nach internationalem Recht müssen die mit der Freilassung der Geisel verbundenen Bedingungen nicht explizit geäußert worden sein, um den Akt der Gefangennahme mit dem Verbrechen der Geiselnahme gleichzusetzen.