Der 31-jährige Forscher und Masterstudent Ahmed Samir Santawy studiert Anthropologie an der Central European University (CEU) in Wien. Seine Forschungsarbeit konzentriert sich auf Frauenrechte, unter anderem auf die Geschichte reproduktiver Rechte in Ägypten. Seit er sein Studium im September 2019 aufnahm, ursprünglich an der CEU in Budapest, ist er bei jeder Ein- und Ausreise am Internationalen Flughafen von Kairo von Sicherheitskräften zu den Gründen für seine Auslandsreisen und der Art seines Studiums befragt worden.
Laut einer Beschwerde, die von der Familie von Ahmed Samir Santawy bei der Staatsanwaltschaft eingereicht und von Amnesty International eingesehen wurde, und laut verschiedener anderer Quellen verschafften sich am 23. Januar sieben vermummte und bewaffnete Polizisten Zutritt zu dem Haus der Familie von Ahmed Samir Santawy. Er war an diesem Tag nicht zuhause. Die Sicherheitskräfte legten keinen Haft- oder Durchsuchungsbefehl vor, beschlagnahmten ein digitales Aufnahmegerät aus den Überwachungskameras des Hauses und ließen Ahmed Samir Santawy ausrichten, er solle bei der Abteilung für Innere Sicherheit (National Security Agency – NSA) vorstellig werden. Gründe gaben sie jedoch keine an.
Festnahme und Verschwindenlassen
Ahmed Samir Santawy erschien am 30. Januar im Büro der NSA auf der Polizeiwache in Neu-Kairo und wurde angewiesen, an einem anderen Tag wiederzukommen. Als er am 1. Februar erneut vorstellig wurde, nahm man ihn fest. Am 3. Februar wurde er auf eine andere Polizeistation in Neu-Kairo gebracht. Am 4. Februar brachten ihn Sicherheitskräfte an einen unbekannten Ort, wo er bis zum 6. Februar festgehalten wurde, als er vor der Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit (SSSP) erschien. Seine Familie und Rechtsbeistände erhielten zwischen dem 1. und 6. Februar keinerlei Informationen über sein Schicksal und seinen Verbleib.
In dieser Zeit wurde Ahmed Samir Santawy ohne Zugang zu seiner Familie oder seinem Rechtsbeistand an drei verschiedenen Orten festgehalten wurde. Während des Verhörs im Büro der NSA auf der Polizeiwache des Stadtteils Fifth Settlement in Neu-Kairo verband man ihm seinen Angaben zufolge die Augen und schlug ihm mit der Faust in den Kopf- und Magenbereich. Die Fragen der NSA-Angehörigen bezogen sich auf sein Studium und seine Verbindungen zu einer regierungskritischen Facebook-Seite.
Befragung durch den Staatsanwalt
Der Staatsanwalt der SSSP befragte Ahmed Samir Santawy zu seinem Studium und akademischen Hintergrund und verlangte Informationen über seine Forschungsergebnisse bezüglich Islam und Abtreibung. Der Staatsanwalt fragte ihn außerdem ausdrücklich, welche Fragen ihm die NSA gestellt habe. Ahmed Samir Santawy gab an, dass ihn die NSA-Angehörigen über sein Studium befragt hatten sowie über seine mutmaßlichen Verbindungen zu einer Facebook-Seite namens January 25 Revolutionaries, die sich kritisch über die Menschenrechtsbilanz der ägyptischen Behörden äußert. Er stritt jegliche Verbindungen ab.
Der Staatsanwalt befragte ihn zudem zu einem Facebook-Beitrag über einen inhaftierten Journalisten, der misshandelt worden sein soll; Ahmed Samir Santawy stritt ab, der Verfasser des Beitrags zu sein. Sein Rechtsbeistand beantragte einen Termin bei der gerichtsmedizinischen Behörde, um die Verletzungen untersuchen zu lassen, die seinem Mandanten während der Inhaftierung durch die NSA zugefügt worden waren. Dies wurde jedoch abgelehnt.
Stattdessen wurde Ahmed Samir Santawy 15 Tage lang in Untersuchungshaft genommen. Die Vorwürfe gegen ihn lauten auf "Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppe", "Verbreitung falscher Nachrichten" und "Nutzung eines Social-Media-Kontos zur Verbreitung falscher Nachrichten". Sein Fall hat die Nummer 65/2021. Die Vorwürfe der SSSP basieren auf einem Facebook-Beitrag, der als regierungskritisch betrachtet wird. Ahmed Samir Santawy streitet ab, dass der Beitrag von ihm stammt. Die NSA hat eine Fallakte für die Untersuchung zusammengestellt, die Ahmed Samir Santawy und seine Rechtsbeistände allerdings nicht einsehen dürfen.
Zweite Anklage
Am 22. Mai 2021 befragte die Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit (SSSP) Ahmed Samir Santawy in einem zweiten Verfahren (Nr. 877/2021) zu Vorwürfen, er sei einer terroristischen Gruppe beigetreten und habe innerhalb von Ägypten und aus dem Ausland Falschnachrichten verbreitet in der Absicht, die nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung zu gefährden. Diese Praxis, neue Ermittlungen gegen Personen einzuleiten, die sich bereits wegen ähnlicher terrorismusbezogener Vorwürfe in Untersuchungshaft befinden, ist in Ägypten als „Rotation“ bekannt und wird dort seit einigen Monaten verstärkt angewendet, offenbar in der Absicht, friedliche Kritiker*innen und Oppositionelle auf unbestimmte Zeit in Haft zu halten.
Die SSSP konfrontierte Ahmed Samir Santawy mit einem Gutachten, das ihren Angaben zufolge darlegt, dass er bestimmte Beiträge in den Sozialen Medien verfasst habe, in denen Kritik an den Haftbedingungen in ägyptischen Gefängnissen sowie an ungeklärten Todesfällen in Gewahrsam geübt wird. Der Text des Gutachtens wurde Ahmed Samir Santawy und seinen Rechtsbeiständen trotz mehrerer Anträge jedoch nicht vorgelegt. Ahmed Samir Santawy streitet ab, an den Social-Media-Beiträgen beteiligt gewesen zu sein. Ungeachtet dessen ist die friedliche Äußerung von Kritik an der Menschenrechtsbilanz der Regierung sowohl durch die ägyptische Verfassung als durch internationale Menschenrechtsnormen geschützt.
Ahmed Samir Santawy sagte bei seiner Anhörung vor der SSSP am 22. Mai aus, dass er am Tag zuvor vom stellvertretenden Gefängnisdirektor des Liman-Tora-Gefängnisses geschlagen worden sei. Seine Rechtsbeistände beantragten seine Verlegung in eine gerichtsmedizinische Einrichtung, um die Verletzungen untersuchen zu lassen. Der willkürlich inhaftierte Menschenrechtsanwalt und ehemalige Parlamentsabgeordnete Zyad el-Elaimy befindet sich ebenfalls lediglich wegen seiner friedlichen politischen Aktivitäten und der Wahrnehmung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung im Liman-Tora-Gefängnis in Haft. Seine Familie legte bei der Staatsanwaltschaft Beschwerde ein und gab an, dass Zyad el-Elaimy und Ahmed Samir Santawy am 21. Mai von Gefängnisbeamt*innen geschlagen wurden.
Am 25. Mai wies das ägyptische Innenministerium diese Vorwürfe zurück und erklärte, sie seien von Medienkanälen in Umlauf gebracht worden, die der verbotenen Muslimbruderschaft nahestehen. Bisher ist keine Untersuchung der Misshandlungsvorwürfe eingeleitet worden. Auch die Angaben von Ahmed Samir Santawy gegenüber der Staatsanwaltschaft bezüglich seines Verschwindenlassens und seiner Folter und Misshandlung nach der Festnahme am 1. Februar durch die SSSP sind nicht untersucht worden.
Verurteilung und Hungerstreik
Am 22. Juni 2021 wurde Ahmed Samir Santawy von einem Notstandsgericht für schuldig befunden, „falsche Informationen veröffentlicht zu haben, um den Staat, seine nationalen Interessen und die öffentliche Ordnung zu untergraben und Panik in der Bevölkerung zu verbreiten“, und zu vier Jahren Haft verurteilt, und zwar auf der Grundlage von Social-Media-Posts, in denen Menschenrechtsverletzungen in ägyptischen Gefängnissen und der Umgang der Regierung mit der Pandemie kritisiert wurden. Laut eigener Aussage ist er nicht der Autor dieser Posts.
Unabhängig davon, wer die Beiträge verfasst hat, verstößt die Kriminalisierung der Verbreitung von Informationen auf der Grundlage vager Begriffe wie „Falschinformationen“ gegen das in der ägyptischen Verfassung garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung und gegen internationale Menschenrechtsabkommen. Notstandsgerichte sind Sondergerichte, deren Verfahren von Natur aus unfair und nicht anfechtbar sind.
Ahmed Samir Santawy trat am 23. Juni 2021 in den Hungerstreik, um gegen seine ungerechte Verurteilung zu protestieren.
Urteilsaufhebung und Neuverhandlung
Im Februar 2022, während des Besuchs des ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah el-Sisi in Brüssel, wurde das Urteil gegen Ahmed aufgehoben und das Verfahren wieder aufgenommen, während er weiterhin in Haft blieb. Nach mehrmaliger Vertagung der Verhandlungen wurde Ahmed Samir Santawy am 4. Juli 2022 von einem Notstandsgericht wegen „Verbreitung von Falschmeldungen aus dem Ausland über interne Angelegenheiten“ zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.