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Am 30. Juni hat Chinas höchstes gesetzgebendes Gremium ein neues Gesetz zur Nationalen Sicherheit in Hongkong verabschiedet, das noch am selben Tag in Kraft trat. Das Gesetz ist gefährlich umfassend und vage formuliert: Alles kann damit zu einer Bedrohung der „nationalen Sicherheit“ erklärt werden und es kann weltweit auf jede Person angewendet werden.
Die chinesischen Behörden haben das Gesetz ohne jede Rechenschaftslegung und Transparenz durchgeboxt: Nur Wochen nach seiner Ankündigung wurde es an den Hongkonger gesetzgebenden Behörden vorbei verabschiedet. Der Text wurde vor der Öffentlichkeit geheim gehalten und soll sogar der Hongkonger Regierung bis nach dem Inkrafttreten vorenthalten worden sein.
Das Gesetz sieht lebenslange Haft bei „Abspaltung“, „Subversion“, „Terrorismus“ und „Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten“ vor. Doch diese Verbrechen sind so weit gefasst, dass sie auf alles angewendet und für eine politisch motivierte Strafverfolgung mit hohen Strafen herangezogen werden können. Mehrere UN-Gremien haben bereits wiederholt ihre Sorge über den weit gefassten Wortlaut zum Ausdruck gebracht.
Die Zentralregierung und die Regierung von Hongkong beschuldigen seit langem Einzelpersonen und zivilgesellschaftliche Organisationen, in ihren Aktivitäten durch „ausländische Mächte“ gesteuert zu werden, so beim Organisieren und Teilnehmen an friedlichen Protesten, dem Erhalt von Spenden und Kritik an der Regierung. Wer jetzt an diesen Aktivitäten teilnimmt, ist potentiell in Gefahr, wegen „Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten“ und anderen neuen „Straftaten“ angeklagt zu werden.
In Festlandchina hat Amnesty International die Praxis der chinesischen Regierung dokumentiert, Journalist*innen, Rechtsbeistände, Akademiker*innen und Aktivist*innen wegen „Umsturz”-Anklagen routinemäßig ins Gefängnis zu bringen.
Gleich nach der Verabschiedung begannen die Behörden, das Gesetz zur Unterdrückung von legitimen und friedlichen Meinungsäußerungen zu nutzen. Menschen wurden wegen des Besitzes von Fahnen, Stickern und Bannern mit politischen Parolen festgenommen. Die Polizei und staatliche Funktionsträger*innen behaupten zudem, dass Slogans, T-Shirts, Songs und weißes Papier die nationale Sicherheit in Gefahr bringen und eine Strafverfolgung nach sich ziehen können.
Demonstrierende halten während eines mittäglichen Protests in einem Einkaufszentrum in Hongkong weiße Schilder hoch. (c) Bloomberg via Getty Images
Im Namen der nationalen Sicherheit gibt das Gesetz der chinesischen Zentralregierung und der Hongkonger Regierung neue weitreichende Befugnisse zur Kontrolle und der Verwaltung von Schulen, sozialen Organisationen, den Medien und dem Internet in Hongkong.
Die Medienbranche hat ihre Befürchtungen über die möglichen Auswirkungen des Gesetzes auf die Pressefreiheit in Hongkong geäußert. Die New York Times hat zum Beispiel beschlossen, einen Teil der in Hongkong Beschäftigten nach Südkorea zu verlegen.
Die Hongkonger Regierung versucht zudem, die Rechte der Studierenden auf Meinungsfreiheit auf dem Campus stark einzuschränken. Selbst die Diskussion politischer Probleme im Hörsaal könnte nun Risiken mit sich bringen.
Das Gesetz gibt den Strafverfolgungsbehörden die Macht, Online-Inhalte aus dem Netz zu nehmen und ohne richterliche Anordnung Userdaten zu erhalten. Große Online-Plattformen wie WhatsApp, Twitter, LinkedIn, Facebook und Google haben als Antwort auf die neuen und uneingeschränkten Befugnisse die Bearbeitung von Anfragen der Hongkonger Regierung nach Userdaten ausgesetzt.
Durch das Gesetz zur nationalen Sicherheit können Verdächtige nun nach Festlandchina gebracht, unter dem dortigen Strafjustizsystem verfolgt und vor Gericht gestellt werden. Die Aussicht darauf hatte ab Mitte 2019 die Massenproteste in Hongkong ausgelöst. Auf dem Festland wegen eines Verbrechens im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit angeklagt zu werden, kann zu willkürlicher oder auch geheimer Haft, der Verletzung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren sowie zu Folter und anderen Misshandlungen führen.
Der Gesetzestext setzt die juristische Zuständigkeit für Menschen fest, die nicht in Hongkong leben und niemals dort gewesen sind. Das heißt, dass jede Person– unabhängig von Nationalität oder Ort – technisch gesehen gegen dieses Gesetz verstoßen und Festnahme und Strafverfolgung erfahren kann, wenn sie sich in der chinesischen juristischen Zuständigkeit, auch im Transit, befindet. Beschuldigte ausländische Staatsangehörige, die nicht ständig in Hongkong wohnen, können schon vor einem Gerichtsverfahren oder Urteil abgeschoben werden.
Nach dem neuen Gesetz können die Ermittlungsbehörden ohne Gerichtsbeschluss Grundbesitz durchsuchen, die Reisefreiheit einschränken oder unterbinden, Vermögenswerte einfrieren oder beschlagnahmen, Online-Inhalte zensieren und verdeckt überwachen, dazu gehört auch das Abfangen von Kommunikation. Die Behörden können auch Informationen von Organisationen und Einzelpersonen einfordern, selbst wenn die fraglichen Informationen sie belasten könnten.
Das Büro zum Schutz der Nationalen Sicherheit öffnete offiziell am 8. Juli 2020 in Hongkong. (c) Chan Long Hei
Die chinesische Zentralregierung richtet ein Büro zum Schutz der Nationalen Sicherheit im Herzen Hongkongs ein. Das Büro und die Beschäftigten fallen nicht in die juristische Zuständigkeit Hongkongs. Das bedeutet, dass ihre Aktionen, auch die Operationen in der Stadt, nicht von den lokalen Gerichten geprüft werden können und auch nicht die lokalen Gesetze einhalten müssen. Das Büro und die Beschäftigten genießen völlige Immunität, ungeachtet der Straftaten oder Menschenrechtsverletzungen, die ihnen zur Last gelegt werden.
Die Hongkonger Regierung hat eine weitere Institution eingerichtet, den Ausschuss zum Schutz der Nationalen Sicherheit mit einem/einer Delegierten der chinesischen Zentralregierung zur „Beratung“.
Der Ausschuss hat die Befugnis, in den Strafverfolgungsbehörden und bei der Staatsanwaltschaft diejenigen Beschäftigten auszuwählen, die einen Fall der nationalen Sicherheit bearbeiten sollen. Nach dem neuen Gesetz muss der Ausschuss seine Arbeit nicht offenlegen. Entscheidungen des Ausschusses unterliegen keiner gerichtlichen Kontrolle. Der Ausschussvorsitz kann auch Richter*innen benennen, die Fälle der nationalen Sicherheit verhandeln sollen. Das scheint die juristische Unabhängigkeit zu untergraben.
Darüber hinaus hat die Hongkonger Polizei eine neue Abteilung eingerichtet, die verdeckte Überwachung ohne gerichtliche Kontrolle durchführen kann.
Das Gesetz zur nationalen Sicherheit enthält zwar eine allgemeine Garantie zur Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der wichtigsten Menschenrechtsverträge wie den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Doch andere Bestimmungen im Gesetz können diesen Schutz zunichtemachen.
Das Gesetz räumt den nationalen Sicherheitsbehörden und ihren Beschäftigten Immunität und umfangreiche Ausnahmen ein und steht im Falle eines Konflikts über jedem Hongkonger Gesetz.
Das in China geltende Gesetz über die Nationale Sicherheit enthält eine ähnliche Zusicherung für die Achtung der Menschenrechte, doch diese hat den unter diesem Gesetz verfolgten Personen – darunter Anwält*innen, Akademiker*innen, Journalist*innen, Pastor*innen und NGO-Mitarbeiter*innen – bisher wenig bis gar keinen Schutz geboten.
Da dieses drakonische Gesetz so vage ist, dass niemand weiß, wann ein Verstoß vorliegt, hatte es sofort eine einschüchternde Wirkung.
Viele Hongkonger*innen, die seit Juni 2019 regelmäßig online Nachrichten über die Proteste geteilt hatten, haben ihre Social-Media-Konten aus Angst, gegen das Gesetz zu verstoßen, geschlossen. Innerhalb von Tagen haben die öffentlichen Büchereien begonnen, Bücher zu „sensiblen“ Themen und Bücher von regierungskritischen Aktivist*innen auszusortieren.
Die Bereitschaftspolizei verhaftet einen Mann und hält bei einer Demonstration am 1. Juli 2020 gegen das neue Gesetz zur nationalen Sicherheit ein Transparent zu dem Gesetz hoch. (c) 2020 Getty Images
Innerhalb von einer Woche nach Inkrafttreten des Gesetzes haben sich mindestens sieben politisch aktive Gruppen aufgelöst, darunter auch die pro-demokratische Gruppe Demosisto. Der bekannte Aktivist Joshua Wong hatte sich schon zuvor aus der Gruppe zurückgezogen. Ein anderes wichtiges Mitglied, Nathan Law, verließ Hongkong aus Angst um seine Sicherheit.
Das Hongkonger Gesetz zur nationalen Sicherheit schützt die Menschenrechte beim Schutz der nationalen Sicherheit nicht. Die Konsequenzen sind schwerwiegend – die undefinierbaren Schlüsselaspekte des Gesetzes verbreiten Angst unter der Hongkonger Bevölkerung. Das Hongkonger Gesetz zur nationalen Sicherheit ist ganz ohne Zweifel ein weiteres Beispiel für eine Regierung, die das Konzept der „nationalen Sicherheit“ einsetzt, um die politische Opposition zu unterdrücken. Es birgt erhebliche Risiken für Menschenrechtsverteidiger*innen, kritische Medienberichterstattung und die Zivilgesellschaft insgesamt.