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In der Nacht des 24. Februars konnte ich nicht schlafen. Unablässig suchte ich auf Twitter nach Anzeichen, dass die lange vorhergesagte russische Invasion nicht passieren würde. Auch viele andere Menschen in der Ukraine machten in dieser Nacht kein Auge zu.
Immer wieder aktualisierte ich meinen Newsfeed und war mit zunehmend verstörenden Nachrichten konfrontiert: „Ostukraine: Keine Flüge mehr über dem Grenzgebiet“; „Russische Diplomat*innen verlassen hastig ihre Botschaft“. Stunden vergingen. Als ich den Feed erneut lud, erschienen plötzlich Videos von Überwachungskameras, auf denen zu sehen war, wie russische Panzer über einen der Grenzposten in die Ukraine einfuhren. „Es hat angefangen“ – plötzlich verbreiteten sich solche Posts rasend schnell auf Twitter.
Nur einige Augenblicke, nachdem ich von diesen Neuigkeiten erfahren hatte, explodierte etwas mit ohrenbetäubendem Lärm. Alle im Haus wachten schockiert und ungläubig auf. Innerhalb weniger Minuten schnappten wir die beiden Rucksäcke, die wir Wochen zuvor „nur für den Fall“ vorbereitet hatten, zogen unserer schlaftrunkenen Tochter einen Wintermantel über ihren Pyjama und verließen unser kleines Zuhause, ohne zurückzuschauen. Es war ein dunkler und nebliger Morgen. Eine Tasse Tee, die ich frühmorgens zubereitet hatte, blieb unberührt auf dem Tisch stehen.
Campaignerin bei Amnesty International
Campaignerin bei Amnesty International
Maria Guryeva beschäftigt sich als Campaignerin bei Amnesty International mit den Länder Belarus, Ukraine und Moldawien. Bis zur russischen Invasion der Ukraine lebte sie in Kiew.
Obwohl eine mögliche Invasion Russlands schon seit Monaten diskutiert worden war, dachten die Menschen in der Ukraine nicht, dass dies tatsächlich jemals passieren würde. Und so dachten nicht nur die Ukrainer*innen. Denn ein solcher Akt der Aggression hätte nicht nur für die Ukraine undenkbare Konsequenzen, sondern auch für Russland und viele andere Länder auf der Welt. Wir waren uns deswegen sicher, dass niemand so etwas zulassen würde.
Über Monate hinweg versuchten die Menschen in der Ukraine also trotz der beunruhigenden Nachrichten, ihr Leben normal weiterzuführen. Inzwischen ist jedoch leicht zu erkennen, wie schnell sich die Anzeichen für einen bevorstehende Einmarsch entwickelt hatten.
Im Januar 2022 verlegte Russland rund 100.000 Soldat*innen und Militärgüter an die ukrainische Grenze. Von offizieller Seite hieß es, dass die Truppen für militärische Übungen dorthin geschickt worden waren und bald wieder zu ihren Stützpunkten zurückkehren würden.
Am 15. Februar forderten die Abgeordneten der Staatsduma Präsident Putin dazu auf, die Gebiete der sogenannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk für unabhängig zu erklären. Diese Gebiete im Osten der Ukraine stehen unter der Kontrolle bewaffneter Kräfte, die von Russland unterstützt werden.
Ein paar Tage später berief Putin eine im Fernsehen übertragene Sitzung des Sicherheitsrates der Russischen Föderation ein. Dabei wurde eine Person nach der anderen gebeten, ihre Meinung über die Anerkennung der Unabhängigkeit dieser „Republiken“ zu äußern. Wenig überraschend drückten alle Mitglieder ihre nachdrückliche Unterstützung aus – einige waren jedoch sichtlich nervös.
Am selben Tag, dem 21. Februar, erklärte Putin in einer im Fernsehen ausgestrahlten Rede, dass die Ukraine nie ein echter Staat gewesen, sondern im 20. Jahrhundert künstlich geschaffen worden sei. In seiner langen Ansprache lehnte er unter anderem die ukrainische Nationalität ab, bezichtigte die NATO, das russische Volk getäuscht zu haben, und versprach, die „historische Gerechtigkeit“ für Russland wieder herzustellen.
„Ist das eine Kriegserklärung?“, fragten einige ausländische Journalist*innen auf Twitter, nachdem sie die Rede Putins gehört hatten. Die Antwort darauf sollte bald klar sein.
Die vielen Leben, die dieser Krieg gefordert hat, werden noch lange eine offene Wunde für viele Ukrainer*innen und andere Menschen bleiben… Doch solange Aktivist*innen, freiwillige Helfer*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen am Leben sind und arbeiten, ist die Wiederherstellung des Friedens, der Menschenrechte und der Ukraine möglich.
Maria Guryeva, Amnesty International
Nur drei Tage später, am 24. Februar, begann die russische Invasion der Ukraine: In vielen Teilen der Ukraine wurden Militäreinrichtungen unter Beschuss genommen und russische Truppen überquerten die Grenzen im Norden und im Osten der Ukraine. Im Süden marschierten Soldat*innen von der besetzten Krim ein. Russische Kriegsschiffe formierten sich im Schwarzen Meer.
Im vergangenen Monat hat die russische Armee wiederholt gegen das humanitäre Völkerrecht (Kriegsrecht) verstoßen und tut dies auch weiterhin. Bei den systematischen Angriffen auf Wohngebiete, Krankenhäuser, Schulen und andere zivile Einrichtungen wurden unzählige Zivilpersonen verletzt und getötet.
Europa hat seit dem Zweiten Weltkrieg keinen Krieg dieses Ausmaßes mehr gesehen. Die Angriffe der russischen Streitkräfte haben bereits Hunderte, wahrscheinlich sogar Tausende zivile Opfer gefordert. Über zehn Millionen Menschen sind vertrieben worden, 3 Millionen davon in andere Länder geflüchtet.
Obwohl Putin zu Beginn versicherte, dass die russische Armee nur Militärstützpunkte angreifen würde, stellte sich schon früh heraus, dass das nicht stimmte.
Nur wenige Stunden nachdem die Invasion begonnen hatte, überprüfte Amnesty International Berichte und Videobeweise, die systematische Angriffe im ganzen Land offenbarten. Die russischen Soldat*innen zerstörten wahllos Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten, medizinische Einrichtungen und Lebensmittelgeschäfte. Dabei setzten sie unterschiedslos wirkende Waffen und verbotene Streumunition ein.
Immer mehr Berichte deuten darauf hin, dass dies nicht die einzigen Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte waren.
Wer die Nachrichten verfolgt, weiß, dass ukrainische Großstädte wie Charkiw, Kiew und Mariupol, aber auch Dutzende Kleinstädte und Dörfer im ganzen Land unter ständigem Beschuss stehen. Die verzweifelten Bewohner*innen sind im Kreuzfeuer gefangen oder werden von den russischen Truppen belagert.
Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, ist nur etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Lage dort ist besonders schlimm: Durch den unentwegten Beschuss sind bereits Dutzende Zivilpersonen gestorben, große Teile der Zivileinrichtungen beschädigt oder zerstört worden. Die dort verbliebenen Menschen kämpfen unter unerträglichen Bedingungen um ihr Leben.
Mehrere Dörfer in der Umgebung von Kiew – wie Irpin oder Butscha – waren früher ruhig und malerisch; schöne Gegenden, in die junge Familien ziehen wollten. Heute sind sie größtenteils zerstört und stehen kurz vor dem Zerfall. Hunderte Menschen sind tot und Tausende vertrieben. Wo einst friedliche Vororte waren, herrscht heute eine humanitäre Katastrophe.
In der Ostukraine sieht die Situation nicht anders aus: Die Stadt Isjum hatte früher mehr als 40.000 Einwohner*innen. Auch diese Stadt wurde weitgehend zerstört und es herrscht ein Bild der Verwüstung.
Laut Amnesty International vorliegenden Zeug*innenaussagen haben die Menschen in Isjum keinen Zugang zu Strom, Gas oder Heizung. Jedwede Form der Kommunikation ist abgeschnitten und es mangelt an sanitären Einrichtungen und sauberem Wasser.
Einige aus Isjum geflüchtete Menschen schildern Amnesty International ihre Erlebnisse:
Tetyana, die sich mit ihrem fünf Monate alten Baby in einer Notunterkunft in der Stadt aufgehalten hatte, berichtet: „Als wir die Stadt verließen [evakuiert wurden], waren nur noch drei Fünf-Liter-Behälter [Wasser] übrig – für 55 Menschen. Ich weiß nicht, wie sie überleben werden.“
Natalia, die in einem Einfamilienhaus wohnte, erzählt: „Wir verbrachten sechs Tage in einem Keller. Der Raum war so klein, dass wir darin stehen mussten; es war unmöglich, sich hinzulegen. Sobald es eine Unterbrechung [der Angriffe] gab, liefen wir schnell nach draußen, um ein paar Eier von unseren Hühnern zu holen. Unser Kind hatte Hunger, weil wir kaum etwas zu essen hatten. Alles was übrig war, war hartes Brot, Äpfel aus dem Vorratskeller, Essiggurken aus der Dose und Marmelade… Wir konnten nirgendwo etwas anderes zu essen bekommen, weil wir das Haus nicht verlassen konnten. Alles stand unter Beschuss.“
Mit dem Krieg gegen die Ukraine hat Russland Tod und Zerstörung gebracht; unzählige Menschenleben wurden ausgelöscht. Ganze Städte, Familien und die Träume und Hoffnungen vieler Menschen liegen in Trümmern.
Doch die von Putin angeordnete Vernichtung der Ukraine und ihrer Einwohner*innen zerstört nicht nur die Hoffnungen und Zukunftspläne vieler Ukrainer*innen, sondern auch vieler Russ*innen.
Und nicht nur das: Die Folgen dieses Kriegs sind weit über die Grenzen der Ukraine hinaus spürbar: Die Nahrungsmittelkrise eskaliert und Umweltschäden sind deutlich spürbar. Immer mehr Menschen sehen sich auf der Suche nach einem Leben in Frieden und Sicherheit gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.
Trotz allem zeigt die ukrainische Gesellschaft eine unglaubliche Resilienz und kommt in den dunkelsten Stunden zusammen, um gemeinsam Hoffnung zu schöpfen – wie schon bei der Maidan-Revolution 2014.
Das oberste Ziel zivilgesellschaftlicher Organisationen – die bereits seit Jahren als Rückgrat der Ukraine fungieren – ist es jetzt, Zivilpersonen zu helfen. Die Mitglieder organisieren Evakuationen, kümmern sich um die Lieferung von humanitären Hilfsgütern aus anderen Ländern und überwachen die Verteilung in betroffene Regionen. Das alles leisten sie unter konstantem Beschuss und setzen dabei täglich ihr Leben aufs Spiel.
Die Direktorin einer NGO, die im Osten der Ukraine tätig ist, hilft zusammen mit Kolleg*innen bei der Evakuierung von Zivilpersonen aus betroffenen Regionen. Jeden Tag postet sie auf Facebook: „Wir sind am Leben. Wir arbeiten.“
Die vielen Leben, die dieser Krieg gefordert hat, werden noch lange eine offene Wunde für viele Ukrainer*innen und andere Menschen bleiben… Doch solange Aktivist*innen, freiwillige Helfer*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen am Leben sind und arbeiten, ist die Wiederherstellung des Friedens, der Menschenrechte und der Ukraine möglich.
Ich hoffe noch immer, dass ich eines Tages wieder nach Hause gehen kann und die kalte Tasse Tee unberührt auf dem Tisch stehen sehe.