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Iran: Tausende Menschen willkürlich inhaftiert und in Foltergefahr

17. Dezember 2019

Zusammenfassung

  • Tausende festgenommen, darunter auch Minderjährige im Alter von 15 Jahren
  • Festgenommene werden gefoltert und Opfer des Verschwindenlassens
  •  Mindestens 304 Personen getötet

Seit dem Ausbruch landesweiter Proteste am 15. November gehen die iranischen Behörden scharf gegen die Teilnehmenden vor – Tausende Protestierende, Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Studierende wurden festgenommen, um sie daran zu hindern, öffentlich das im Iran herrschende Klima der Unterdrückung anzuprangern.

Die Behörden versuchen, Betroffene der Staatsgewalt zum Schweigen zu bringen

Amnesty International hat mit Dutzenden Personen im Iran gesprochen, die beschrieben, wie die Behörden in den Tagen und Wochen während und nach den Protesten zahlreiche Personen ohne Kontakt zur Außenwelt festhielten, Folter und anderen Misshandlungen aussetzten und „verschwinden“ ließen.

Glaubwürdigen Berichten zufolge wurden zwischen dem 15. und 18. November mindestens 304 Menschen getötet und Tausende verletzt, als die Behörden mit tödlicher Gewalt gegen die Protestierenden vorgingen. Bisher weigern sich die Behörden, offizielle Zahlen bekanntzugeben.

„Haarsträubende Aussagen von Augenzeug*innen deuten darauf hin, dass die iranischen Behörden zunächst Hunderte Demonstrierende massakrierten und unmittelbar danach mit großflächigen Repressalien versuchten, die Menschen davon abzuhalten, über die Ereignisse zu sprechen“, so Philip Luther, Research-Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

Durch Amnesty verifizierte und von Augenzeug*innen-Berichten untermauerte Videoaufnahmen zeigen, wie die iranischen Sicherheitskräfte das Feuer auf unbewaffnete Protestierende eröffneten, die keine unmittelbare Gefahr darstellten. Die meisten durch die Organisation dokumentierten Tötungen gehen auf Schusswaffenverletzungen am Kopf, in der Brust, am Nacken oder an lebenswichtigen Organen zurück. Das deutet darauf hin, dass die Sicherheitskräfte ihre Schusswaffen mit Tötungsabsicht einsetzten.

Mindestens 12 Minderjährige getötet

Die Vereinten Nationen haben erklärt, dass vorliegenden Informationen zufolge mindestens zwölf Minderjährige getötet wurden. Laut Recherchen von Amnesty International befinden sich darunter auch der 15-jährige Mohammad Dastankhah, dem in Schiraz in der Provinz Fars in die Brust geschossen wurde, als er auf dem Heimweg von der Schule an den Protesten vorbeiging, sowie der 17-jährige Alireza Nouri, der in Schahriyar in der Provinz Teheran getötet wurde.

„Statt weiter auf brutale Repression zu setzen, müssen die iranischen Behörden umgehend und bedingungslos all diejenigen freilassen, die willkürlich inhaftiert wurden“, forderte Philip Luther. "Die internationale Gemeinschaft muss dringend Maßnahmen ergreifen."

Der UN-Menschenrechtsrat muss eine Sondersitzung zum Iran abhalten und ein Mandat für eine Untersuchung der rechtswidrigen Tötungen, haltlosen Festnahmen, Fälle des Verschwindenlassens und der Folter vergeben, damit Rechenschaftspflicht gewährleistet ist.

Philip Luther, Research-Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International

Massenhafte Festnahmen

Am 17. November, dem dritten Tag der Proteste, berichteten die staatlichen Medien, dass mehr als 1.000 Demonstrierende festgenommen worden seien. Am 26. November sagte Hossein Naghavi Hosseini, ein Sprecher des Parlamentsausschusses für nationale Sicherheit und Außenpolitik, dass 7.000 Personen festgenommen worden seien. Offizielle Zahlen wurden seitens der Behörden noch nicht bekanntgegeben.

Amnesty International hat aus mehreren unterschiedlichen Quellen erfahren, dass die Sicherheitskräfte immer noch im ganzen Land Razzien durchführen und Menschen zuhause und an ihren Arbeitsplätzen festnehmen.

Es wurden auch Minderjährige inhaftiert, einige davon erst 15 Jahre alt. Sie werden unter anderem im Fashafouyeh-Gefängnis in der Provinz Teheran festgehalten, wo Folter und andere Misshandlungen an der Tagesordnung sind. Auch Militärkasernen und Schulen werden als Hafteinrichtungen verwendet.

Zahlreiche Regierungsangehörige wie z. B. der Religionsführer und die Oberste Justizautorität haben die Protestierenden als „Verbrecher*innen“ und „Randalierer*innen“ bezeichnet und sie mit ausländischen Mächten in Verbindung gebracht. In den staatlichen Medien wurde gefordert, die „Anführer*innen“ der Proteste mit dem Tod zu bestrafen.

Auch Journalist*innen, Studierende und Menschenrechtsverteidiger*innen – einschließlich Personen, die sich für Arbeitsrechte und die Rechte von Minderheiten einsetzen – sowie Angehörige ethnischer Minderheiten werden willkürlich festgenommen und inhaftiert.

Der Journalist Mohammad Massa’ed wurde am 23. November festgenommen, nachdem er auf Twitter über die staatlich veranlasste Internetzensur zwischen dem 16. und 24. November gepostet hatte. Einige Tage später kam er gegen Kaution wieder frei.

Die Aktivistin Soha Mortezaei wurde als eine von zahlreichen Studierenden bei einer Protestveranstaltung an der Universität Teheran am 18. November festgenommen. Sie wird seither ohne Zugang zu ihrem Rechtsbeistand und ihrer Familie festgehalten. In der Universität stationierte Sicherheitskräfte hatten ihr zuvor mit Elektroschockfolter und der Einweisung in eine Psychiatrie gedroht.

Berichten zufolge sind einige Gefängnisse und Hafteinrichtungen mittlerweile stark überfüllt. Am 25. November drückte der Stadtrat von Rey in der Provinz Teheran gegenüber Journalist*innen die Sorge aus, dass das Fashafouyeh-Gefängnis sehr stark überbelegt sei und weder die Kapazitäten noch die nötigen Einrichtungen habe, um so viele Inhaftierte zu beherbergen.

Folter und andere Misshandlungen

Augenzeugenberichte und Videoaufnahmen deuten darauf hin, dass Inhaftierte in manchen Fällen gefoltert und anderweitig misshandelt wurden, unter anderem durch Schläge und Stockhiebe. Eine Person gab an, dass ein gegen Kaution freigelassener Familienangehöriger Prellungen und Schnitte am Gesicht aufwies und derart traumatisiert sei, dass er das Haus nicht verlassen wolle.

Ein durch Amnesty verifiziertes und geolokalisiertes Video zeigt, wie mit Handschellen gefesselte Inhaftierte in den Hof der Mali-Abad-Polizeistation in Schiraz gebracht und dann von Sicherheitskräften geschlagen und getreten werden.

Betroffene und Augenzeug*innen haben Amnesty International zudem mitgeteilt, dass die iranischen Sicherheitskräfte im ganzen Land Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen durchsucht haben, um verwundete Protestierende festzunehmen und in Hafteinrichtungen zu bringen. Damit verweigerten sie den Betroffenen die potenziell lebensnotwendige medizinische Behandlung.

Eine Quelle gab an, dass Angehörige des Geheimdienstes die Betreiber*innen eines Krankenhauses in der Provinz Chuzestan zwangen, ihnen eine Liste mit den Namen aller neu eingelieferten Patient*innen auszuhändigen.

„Die Behörden sind verpflichtet, alle Inhaftierten vor Folter und anderer Misshandlung zu schützen. Angesichts des systematischen Einsatzes von Folter im Iran müssen die Behörden dringend dafür sorgen, dass UN-Angehörige, Mandatsträger*innen und andere relevante Expert*innen umgehend Zugang zu Hafteinrichtungen und Gefängnissen erhalten, um ihre Untersuchungen durchzuführen“, so Philip Luther.

Ohne sofortigen internationalen Druck sind Tausende Menschen weiterhin der Gefahr von Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt.

Philip Luther, Research-Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International

Verschwindenlassen und Haft ohne Kontakt zur Außenwelt

Amnesty International hat Berichte darüber erhalten, dass Inhaftierte häufig wenig oder gar keinen Kontakt zu ihren Familien aufnehmen durften und dass einige unter Bedingungen festgehalten werden, die dem Verschwindenlassen gleichkommen – was ein Verbrechen nach dem Völkerrecht darstellt.

Familienangehörige der Betroffenen sagten Amnesty International, dass sie auf Polizeistationen, bei der Staatsanwaltschaft, den Revolutionsgerichten, in Gefängnissen und anderen Hafteinrichtungen nach ihren verschwundenen Verwandten gefragt, aber keine Auskunft bekommen haben.

In den Provinzen Ost-Aserbaidschan und West-Aserbaidschan wurde eine Gruppe von Aktivist*innen festgenommen, die sich für die Rechte von Minderheiten einsetzen. Deren Mütter gaben an, von den Behörden die Antwort erhalten zu haben, man „habe nicht vor“, ihnen Informationen über ihre Verwandten zu geben. „Wir können mit euren Kindern machen, was wir wollen. Wir können sie so lange festhalten, wie wir wollen, zehn Jahre vielleicht... Wir werden sie hinrichten und es gibt nichts, was ihr dagegen tun könnt“, so ein Beamter.

„Die Welt darf nicht tatenlos zusehen, wie die iranischen Behörden weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen begehen, um rücksichtslos alle kritischen Stimmen zum Schweigen zu bringen“, forderte Philip Luther. 

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