„Das Verhindern von Wahrheit und Gerechtigkeit zeigt zudem die anhaltende Diskriminierung, die Personen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihres Migrationsstatus erfahren. Die Hoffnung, die vermissten 76 Menschen lebendig aufzufinden, schwindet zusehends. Daher wird die Forderung an die Behörden, Wahrheit und Gerechtigkeit für die Betroffenen und ihre Familien zu gewährleisten, immer lauter“, sagt Agnès Callamard.
Keine Überführung und Identifizierung der Toten
Auch ein Jahr nach den tragischen Ereignissen haben die Behörden keinerlei Anstrengungen unternommen, die sterblichen Überreste der Toten in deren Heimatland zu überführen, und mindestens 22 Leichen befinden sich nach wie vor unidentifiziert in einer Leichenhalle in Marokko. Die Behörden in Spanien und Marokko haben weder eine vollständige Liste mit den Namen und Todesumständen der Opfer veröffentlicht, noch die Aufnahmen von Überwachungskameras zugänglich gemacht, die bei einer Untersuchung helfen könnten. Darüber hinaus haben sie Handlungen, die als völkerrechtliche Verbrechen oder Menschenrechtsverletzungen gelten, nicht angemessen untersucht und Vorfälle von Rassismus und Diskriminierung an der Grenze nicht geahndet.
Untersuchung verweigert, Anfragen von Amnesty International blieben unbeantwortet
Die spanischen Behörden verweigerten eine unabhängige Untersuchung. Im Dezember 2022 stellte die Staatsanwaltschaft ihre Untersuchung der Todesfälle ein und gab an, dass es keine Belege für strafbare Handlungen seitens der spanischen Sicherheitskräfte gebe.
Die marokkanischen Behörden haben den Einsatz von Gewalt durch ihre Grenzschützer*innen bisher nicht untersucht und es NGOs und den betroffenen Familien faktisch unmöglich gemacht, nach Toten und Vermissten zu suchen. Die schriftlichen Anträge auf Herausgabe von Informationen, die Amnesty International an die marokkanische und spanische Regierung geschickt hat, wurden bisher nicht beantwortet.
Gleichzeitig bedienen sich die spanischen Behörden an den Grenzen weiterhin rechtswidriger Praktiken wie Kollektivabschiebungen – oftmals mittels unverhältnismäßiger Gewaltanwendung. Auf der marokkanischen Seite der Grenze hindern die Behörden im Zuge ihrer Zusammenarbeit mit Spanien nach wie vor Schwarze Menschen aus Ländern südlich der Sahara daran, auf spanisches Territorium zu gelangen und dort Asyl zu beantragen.
Ein 2022 von Amnesty International veröffentlichter Bericht zeigt, dass die tragischen Ereignisse vom Juni 2022 vorhersehbar und der Verlust von Menschenleben vermeidbar waren. Im November 2022 sagte die UN-Sonderberichterstatterin für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, dass die Gewalt von Melilla „den Status Quo an den Grenzen der Europäischen Union aufzeigt, nämlich rassistisch motivierte Ausgrenzung und tödliche Gewalt, mit der Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten sowie anderen nicht-weißen Bevölkerungsgruppen der Zutritt verwehrt werden soll.“