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Seit ihrer Machtergreifung vor einem Jahr haben die Taliban in Afghanistan die Menschenrechte mit Füßen getreten. In einem neuen Bericht zeigt Amnesty International wie unter der Taliban-Herrschaft Minderheiten verfolgt, friedliche Proteste gewaltsam niedergeschlagen und Frauen unterdrückt werden. Das Taliban-Regime setzt außergerichtliche Hinrichtungen und Verschwindenlassen ein, um unter der afghanischen Bevölkerung Angst und Schrecken zu verbreiten.
Der Bericht The Rule of Taliban: A Year of Violence, Impunity and False Promises dokumentiert schwerste Menschenrechtsverletzungen seit der Machtergreifung der Taliban im Jahr 2021. Er offenbart die weit verbreitete Straflosigkeit für Verbrechen wie Folter, Morde aus Vergeltung und Vertreibungen von Gegner*innen der Taliban – obwohl diese ursprünglich versprochen hatten, sowohl die Frauenrechte als auch die Pressefreiheit zu achten und ehemaligen Regierungsvertreter*innen Amnestien zu gewähren.
„Vor einem Jahr haben sich die Taliban öffentlich dazu verpflichtet, die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Stattdessen machen sie die Errungenschaften im Menschenrechtsbereich der letzten 20 Jahre mit atemberaubender Geschwindigkeit zunichte. Angesichts der Strategie der Taliban, mittels gewaltsamer Unterdrückung zu regieren, haben sich alle Hoffnungen auf einen Wandel schnell in Luft aufgelöst“, sagte Yamini Mishra, Regionaldirektorin für Südasien bei Amnesty International.
Willkürliche Inhaftierungen, Folter, Verschwindenlassen oder Hinrichtungen im Schnellverfahren stehen wieder auf der Tagesordnung. Frauen und Mädchen werden ihrer Rechte beraubt. Sie blicken einer düsteren Zukunft entgegen, da sie weder eine Ausbildung machen können noch die Möglichkeit haben, am öffentlichen Leben teilzunehmen.
Yamini Mishra, Regionaldirektorin für Südasien bei Amnesty International
Amnesty International fordert die Taliban auf, ihre schweren Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtliche Verbrechen sofort zu beenden. Als De-facto-Regierung von Afghanistan müssen die Taliban dringend die Rechte der afghanischen Bevölkerung wiederherstellen, schützen und fördern.
„Um eine weitere Verschärfung der Menschenrechtskrise in Afghanistan zu verhindern, muss die internationale Gemeinschaft wirksame Maßnahmen ergreifen, um die Taliban für die begangenen Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte Yamini Mishra.
Angesichts der prekären Menschenrechtslage in Afghanistan fordert Amnesty International die österreichische Regierung auf, ihre Bemühungen um humanitäre Aufnahmeprogramme und Familienzusammenführung zu verstärken.
Viele Menschen aus Afghanistan, die in Österreich Schutz gefunden haben und seit vielen Jahren hier leben, fürchten weiter um ihre Geschwister oder Eltern in Afghanistan. Familienzusammenführungen müssen den Umständen entsprechend unbürokratisch und zügig abgewickelt werden. Dazu braucht es auch eine Aufstockung des Botschaftspersonals in Islamabad und Teheran.
Weiter fordern wir die Einrichtung eines humanitären Aufnahmeprogramms für besonders schutzbedürftige Personen und jene, die nahe Angehörige in Österreich haben. Es muss eine zentrale Stelle eingerichtet werden, bei der Anträge eingereicht werden können, so wie es bereits bei den humanitären Aufnahmeprogrammen Österreichs für syrische Schutzsuchende zwischen 2013 und 2017 der Fall war.
„Vor weniger als einem Jahr sprach Außenminister Schallenberg davon, die Taliban an ihren Taten zu messen. Das Urteil ist inzwischen eindeutig: Die Taliban haben ihr Versprechen gebrochen, die Rechte des afghanischen Volkes, insbesondere die Rechte der Frauen, zu schützen. Sie haben ein System der Gewalt durchgesetzt und eine ganze Reihe von Menschenrechtsverletzungen begangen, die völlig ungesühnt bleiben“, sagte Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich.
Es nun höchste Zeit ist, aktiv zu werden und nicht noch mehr Menschenrechtsverletzungen mitanzuschauen. Wir dürfen Afghanistan nicht im Stich lassen und müssen uns für die Aufnahme von gefährdeten Personen aus Afghanistan einsetzen.
Yamini Mishra, Regionaldirektorin für Südasien bei Amnesty International
Die Recherchen von Amnesty International zeigen, dass die Sicherheitskräfte der Taliban exzessiv Gewalt anwenden, um das Verbot friedlicher Proteste durchzusetzen. In mehreren Großstädten lösten sie friedliche Proteste auf, indem sie auf unbewaffnete Demonstrierende einschlugen und schossen.
Ein Demonstrant aus der Provinz Herat berichtete Amnesty International von den Verletzungen, die ihm die Sicherheitskräfte zugefügt haben: "Ich sah einen Mann in einer Blutlache in einem Straßengraben liegen; ich glaube, er wurde getötet... Meine Hand war gebrochen, aber ich bin nicht ins Krankenhaus gegangen, weil ich befürchtete, wegen meiner Teilnahme an den Protesten verhaftet zu werden."
Bei ihren Versuchen, die Meinungsfreiheit massiv einzuschränken, haben die Taliban Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft ins Visier genommen. Sie schikanierten, bedrohten, inhaftierten und töteten sogar zahlreiche Personen allein aufgrund deren Menschenrechtsarbeit.
Die Taliban gehen zudem gegen die Pressefreiheit vor. Im vergangenen Jahr wurden mehr als 80 Journalist*innen festgenommen und gefoltert, weil sie über friedliche Proteste berichtet hatten.
Ein Journalist berichtete Amnesty International: "Ich wurde geschlagen und so stark auf die Beine gepeitscht, dass ich nicht mehr stehen konnte... Meine Familie unterschrieb ein Dokument, in dem sie mir versprach, dass ich nach meiner Freilassung nicht über das, was mir widerfahren war, sprechen würde; falls ich es doch täte, hätten die Taliban das Recht, meine gesamte Familie zu verhaften."
Am 19. September 2021 erließ das Medien- und Informationszentrum der Regierung eine Anordnung mit vagen Formulierungen, die es Journalist*innen verbietet, Inhalte zu veröffentlichen, die „dem Islam widersprechen“ oder „nationale Persönlichkeiten beleidigen“.
Seit August 2021 gibt es zahlreiche Berichte über Taliban-Soldaten, die Afghan*innen verprügelten und folterten, die gegen Erlasse des Taliban-Regimes verstoßen haben sollen oder der Zusammenarbeit mit der früheren Regierung beschuldigt werden.
Hunderte von Zivilpersonen wurden rechtswidrig festgenommen. Viele von ihnen wurden bei der Festnahme mit Gewehrkolben geschlagen oder ausgepeitscht. Sahiba* (nicht ihr richtiger Name), eine Demonstrantin, berichtete Amnesty International, dass ihr Körper mit blauen Flecken übersät war, nachdem die Sicherheitskräfte der Taliban mit ihr fertig waren. "Es gab kein Gericht, keine Anklage und kein ordentliches Verfahren; wir wurden von der Straße entführt und mehrere Tage lang in einem Privatgefängnis festgehalten, in dem wir keinen Zugang zu unserer Familie, unserem Anwalt oder einer sonstigen Vertretung hatten... Einige der Frauen und Mädchen, die mit mir im selben Raum waren, kehrten nie zurück, und keiner von uns weiß, was mit ihnen geschehen ist", so Sahiba.
Torab Kakar, 34, berichtete Amnesty International, dass sein Freund Jalal, der in den Afghan National Defence Security Forces (ANDSF) gedient hatte, trotz eines "Begnadigungsschreibens" der Taliban von den Taliban an einen unbekannten Ort gebracht wurde.
"Die Taliban fesselten ihm die Hände auf dem Rücken, verbanden ihm die Augen und schlugen ihn, während seine Frau und Kinder, Eltern und jüngeren Geschwister weinten und schrien. Als Jalals Familie nach ihm suchte, wurden sie vom örtlichen Leiter des Geheimdienstes bedroht und gewarnt, ihre Suche aufzugeben.
Rachemorde, Hinrichtungen von mutmaßlichen Widerstandskämpfer*innen im Schnellverfahren und andere Verbrechen, die Berichten zufolge seit der Machtübernahme der Taliban begangen wurden, könnten als Kriegsverbrechen gelten.
So wurden Hunderte Leichen mit Schusswunden oder Folterspuren gefunden, die auf außergerichtliche Hinrichtungen hindeuten. Dutzende von Menschen sind „verschwunden“, weil sie unter der vorherigen Regierung gearbeitet haben oder weil sie verdächtigt werden, am Widerstand gegen die Taliban beteiligt gewesen zu sein. Ihr Verbleib ist nach wie vor unbekannt.
Wenige Wochen nach der Machtübernahme durch die Taliban wurden Berichte über rechtswidrige Vertreibungen von nicht-paschtunischen Afghan*innen aus ihren Häusern und von ihren Farmen bekannt. Auf diese Weise konnten die Taliban ihre Anhänger*innen mit Land belohnen, das sie anderen Gruppen – insbesondere Hazaras, Turkmen*innen und Usbek*innen – abgenommen hatten.
Solche Enteignungen wurden aus dem ganzen Land gemeldet, unter anderem aus den Provinzen Balkh, Helmand, Daikundi, Kandahar und Uruzgan. Dieses Vorgehen der Taliban ließ die ohnehin schon hohe Zahl der Binnenvertriebenen noch weiter ansteigen. Schätzungen der Vereinten Nationen gehen davon aus, dass die Zahl der afghanischen Binnenvertriebenen bis Juni 2022 auf über 820.000 gestiegen ist.
Am 30. August 2021 töteten die Taliban in der Provinz Daikundi rechtswidrig 13 ethnische Hazaras, darunter ein 17-jähriges Mädchen. Nach Augenzeug*innenberichten, die von Amnesty International gesammelt wurden, haben die Taliban neun ehemalige Angehörige der ANDSF, die sich ergeben hatten, außergerichtlich hingerichtet – Tötungen, die als Kriegsverbrechen gelten.
Schon in einem kürzlich veröffentlichten Bericht, dokumentiert Amnesty International wie die Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan seit Machtübernahme der Taliban massiv eingeschränkt wurden.
Die Taliban haben Millionen von afghanischen Mädchen das Recht auf Bildung – und somit die Zukunftsperspektive – genommen. Als die weiterführenden Schulen am 17. September 2021 wieder geöffnet wurden, verboten die Taliban den Mädchen ab der sechsten Klasse den Schulbesuch.
Meena* (nicht ihr richtiger Name), eine 29-jährige Lehrerin aus Kabul, berichtete Amnesty International von ihrer Verzweiflung über die Zukunft ihrer Tochter: "...wir erleben eine Wiederholung der Geschichte... Ich schaue auf meine Uniform und erinnere mich an die Schulzeit, die Schüler*innen und die Lehrer*innen, aber ich habe keine andere Wahl, als zu Hause zu bleiben."
Seit der Machtübernahme durch die Taliban sind Frauen außerdem zunehmend Gewalt ausgesetzt. Dutzende von Frauen wurden festgenommen und gefoltert, weil sie sich inmitten zunehmender
Die Taliban wenden auch Gewalt an Frauen an, um ihre Familienangehörigen zu bestrafen. Lida, die Frau eines ehemaligen Mitglieds der afghanischen Sicherheitskräfte, wurde von zwei bewaffneten Taliban-Männern auf einem Motorrad erschossen. Die 22-Jährige, die im achten Monat schwanger war, wurde zusammen mit ihren beiden Kindern im Alter von zwei und vier Jahren getötet.
Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie die Menschenrechte der gesamten afghanischen Bevölkerung verletzt werden. Eine entschlossene, sinnvolle und einheitliche internationale Reaktion ist das einzige Mittel, um diesen Albtraum zu beenden, den die Afghan*innen nun schon seit einem Jahr ertragen müssen.
Yamini Mishra, Regionaldirektorin für Südasien bei Amnesty International