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Seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl im August 2020 ist die innenpolitische Lage in Belarus von Demonstrationen und Polizeigewalt geprägt. Eine besondere Rolle im Widerstand spielt dabei die belarussische Jugend. Eine Generation, die unter Langzeitherrscher Aleksander Lukaschenko aufgewachsen ist, wendet sich jetzt nun endgültig gegen den Autokraten.
„Ich erlaube mir nicht, etwas zu fühlen, um in diesem Zustand des Bürgerkriegs überhaupt zu überleben!“, antwortete ein 24-jähriger belarussischer LGBTQIA+ Aktivist auf meine Frage, wie er mit der ständigen Gefahr und Repression in seinem Heimatland umgeht. Seine Geschichten über Familienintrigen, Polizeigewalt und Verfolgung durch den Staatsicherheitsdienst ließen mich schaudern. Bis zu diesem Tag gehörten solche Ereignisse für mich in Geschichtsbücher und ich kannte sie nur durch die Erzählungen meiner Großeltern. Doch was bei uns schon fast ein Jahrhundert her ist, ist in Belarus Realität.
Amnesty Youth
Amnesty Youth
Hannah Huber, 18 Jahre alt, ist seit Herbst 2020 im Amnesty Youth-Netzwerk aktiv. Sie studiert „Psychology, Politics, Law and Economics“ am PPLE College in Amsterdam und setzt sich besonders für junge Menschen in Belarus ein.
27 Jahre und 20 Tage ist es her, dass Alexander Lukaschenko das Amt des Präsidenten von Belarus (Weißrussland) übernommen hat. Aus politischer Sicht sind das sechs Amtszeiten, doch für die belarussische Bevölkerung bedeutet das eine ganze Generation, die nie in den Genuss von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit gekommen ist. Das klingt auf dem Papier schlimm genug. Doch welche massiven Auswirkungen und Einschränkungen das besonders für junge Menschen in Belarus bedeutet, wurde mir erst richtig bewusst, als ich anfing, mit jungen Menschen aus Belarus zu sprechen und mich mit Einzelschicksalen stärker auseinanderzusetzen.
Auch Roman Protassewitsch, Jahrgang 1995, hat nie ein anderes Belarus erlebt als jenes unter der eisernen Hand Lukaschenkos. Der Journalist und Blogger, ein lautstarker Kritiker Lukaschenkos, dessen Verhaftung aus einem entführten Ryanair-Flugzeug im Mai einen internationalen Aufschrei auslöste, hat sich unter Lebensgefahr gegen das Regime gestellt. Er hat dafür einen hohen Preis gezahlt – wie viele junge Menschen in Belarus, die sich nicht mehr mit einer Zukunft unter Lukaschenko abfinden wollen. Auch die Geschichten von Kanstantin und Mikita möchte ich hier erzählen. Sie stehen exemplarisch für die junge Generation in Belarus, die mutig für ihre Rechte einsteht, trotz der unvorstellbaren Brutalität, die ihr entgegenschlägt.
Kanstantsin (Deckname), 21 Jahre alt, ehemaliger Student der belarussischen Universität für Informatik und Radioelektronik, wurde wie so viele andere auf einer Demonstration von maskierten Personen in einen Wagen gezerrt und zur nächsten Polizeistation gebracht. Auf die Aussage, dass er Student sei, antworteten die Gestalten lachend: „Nicht mehr!“ und schlugen ihn. Auf der Polizeistation mit einem Aufkleber versehen, der ihn als Aktivist identifizieren sollte, wurde Kanstantsin massive physische und psychische Gewalt angetan. Schließlich wurde er in das berüchtigte Gefangenenlager Akrestsina gebracht, das in der belarussichen Bevölkerung für Folter bekannt ist. Dort angelangt wurde er in einer 15-minütige Gerichtsanhörung mit maskierten Zeug*innen zu weiteren zehn Tagen Haft verurteilt. Kanstantsin berichtete, dass die Staatspolizei unrechtsmäßig physischer Gewalt an ihm anwende, der Richter überhörte dies, die Polizei jedoch nicht.
Unter der Androhung eines Strafverfahrens wurde Kanstantsin genötigt, ein Video aufzunehmen, in dem er seine Aussage widerrief. Trotz des Videos informierte man ihn tags darauf, dass er basierend auf Artikel 342 des Strafgesetzbuches der Republik Belarus („Organisation und Vorbereitung von Aktionen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen“) als Verdächtiger in einem Strafverfahren geführt wird.
Das ist die Generation, die im August 2020 Lukaschenko gezeigt hat, dass das gefälschte Wahlergebnis nicht länger einfach so akzeptiert wird.
Mikita Zalatarou, 16 Jahre alt, wollte am Tag nach der Präsidentschaftswahl im August 2020 einen Freund von der Busstation abholen, als plötzlich eine Gruppe von Demonstrant*innen an ihm vorbeirannten. Aus Angst um seine eigene Sicherheit begann Mikita in dieselbe Richtung zu laufen. Am nächsten Tag stand die Polizei vor seiner Haustür und nahm ihn ohne jegliche Begründung auf die lokale Polizeistation mit. Sechs Stunden wurde er dort allein ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und seinen Eltern festgehalten. Als er schließlich doch seine Mutter sehen durfte, wurde er sofort ohnmächtig und musste in ein Krankenhaus gebracht werden. Als er dort schließlich zu Bewusstsein kam, erzählte er den Ärzt*innen und seinen Eltern, dass die Polizei ihn geschlagen und misshandelt hat, um ihn zu zwingen, das Passwort für sein Telefon zu verraten. Nicht einmal eine Stunde nach dieser Aussage wurde er ohne Umwege wieder in Polizeigewahrsam genommen. Zehn Tage nach diesem Zwischenfall wurde Mikita in die Untersuchungshaftanstalt Nr. 3 verlegt, mit der Begründung, dass er unter Verdacht stehe, einen Molotov-Cocktail auf einen Polizisten geworfen zu haben. In einer Anhörung berichtete er seinem Vater, dass er gezwungen wurde, Namen von weiteren Aktivist*innen bekannt zu geben. Als er dies nicht tat, reagierten die Polizisten mit Gewalt und Elektroschocks. Mikita leidet an Epilepsie und wurde aufgrund seines Gesundheitszustands zu Hause unterrichtet. Vor seiner Verhaftung hatte er seit zwei Jahren keine Anfälle mehr und musste auch keine Medikamente mehr nehmen. Seit seiner Inhaftierung ist er wieder auf Medikamente angewiesen.
Was diese zwei Jugendlichen erleben mussten, sind nur zwei Beispiele, die das Ausmaß der Gewalt und Repression, die Belarus momentan beherrscht, greifbar machen. Diese zwei Jugendlichen sind mehr oder weniger in meinem Alter und einzig unser Geburtsort unterscheidet, ob wir unter Lebensgefahr für unsere Rechte kämpfen müssen oder ob wir privilegiert genug sind, in Sicherheit über diese Missstände zu informieren.
Bei den jungen Menschen in Belarus ist eines deutlich zu spüren: Das Gefühl der vollkommenen Verzweiflung. In einer Schule aufzuwachsen, in der maskierte Personen einem die einzig „richtige“ politische Meinung eintrichtern, in einer Umgebung zu leben, in der Kinder ihren Eltern wegen politischem Engagement aus „Sicherheitsgründen“ weggenommen werden, angedroht zu bekommen keine akademische und berufliche Zukunft zu haben, weil man sich für die falsche Seite engagiert, all dies verursacht vollkommene Verzweiflung. Doch diese Generation, die nichts anderes kennt, die nichts anderes kennenlernen wird, wenn sich nicht bald etwas ändert, ist diejenige, die aus dieser Verzweiflung Mut geschöpft hat, um für ihre Rechte zu kämpfen. Das ist die Generation, die im August 2020 Lukaschenko gezeigt hat, dass das gefälschte Wahlergebnis nicht länger einfach so akzeptiert wird. Und diese Verzweiflung ist ein starkes Mittel, besonders wenn sie, so wie in Belarus, von vielen geteilt wird. Doch sie ist nicht allmächtig.
Ich fühle mich verantwortlich, meine Privilegien zu nutzen, um zur Veränderung für die Menschen in Belarus beizutragen.
Ich habe im Rahmen meiner Arbeit für Amnesty International mehrere Interviews mit Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen geführt und was mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, ist das kollektive Gefühl der Ohnmacht im Kampf gegen Polizeigewalt und einen repressiven Staatsapparat. Allzu oft wird vergessen, dass die Leute, die in diesem Kampf am meisten riskieren, keine Spitzenpolitiker*innen oder Militärs sind. Es sind normale Menschen mit normalen Berufen. Es handelt sich um Schüler*innen, Student*innen, Professor*innen, Ärzt*innen. Ja, selbst Swetlana Tichanowskaja, die belarussische Oppositionsführerin ist eine Englischlehrerin, die stark genug, ist ihr Leben dem Freiheitskampf ihres Landes zu widmen.
Können wir sie mit damit alleine lassen? Staats- und Regierungschef*innen müssen jetzt Druck auf die Regierung von Belarus ausüben, um diese entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen zu stoppen. Als ich dieses Frühjahr bei einem Besuch von Swetlana Tichanowskaja in Wien persönlich auf die belarussische Aktivistin traf, betonte sie die wichtige Rolle, die weltweite Solidarität und der Druck der internationalen Gemeinschaft für die belarussische Protestbewegung spielt. Eine besondere Verantwortung haben auch europäische Firmen, die in Belarus aktiv sind – wie zum Beispiel A1 und die Raiffeisenbank international (RBI) in Österreich.
Ich bin keine Politikerin, ich bin mit 18 Jahren noch nicht einmal diplomierte Politologin. Aber ich fühle mich verantwortlich, meine Privilegien zu nutzen, um zur Veränderung für die Menschen in Belarus beizutragen. Ich fühle mich verantwortlich, Aktivist*innen zuzuhören, ihre Geschichten weiterzuerzählen und ihnen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Ich alleine habe nicht die Macht, ein Regime zu stürzen, aber ein entschlossenes Vorgehen der internationalen Gemeinschaft – und die Unterstützung durch viele, viele Einzelpersonen aus der Zivilgesellschaft, können einiges bewirken. Bis die jungen Menschen in Belarus ihre Freiheit erkämpft haben, müssen wir sie darin bestärken so gut wir können – damit ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht erlischt.
Text: Hannah Huber, Mitarbeit: Anna-Maria Hirschhuber