© Kiana Hayeri / Amnesty International
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EuGH-Urteil zu Afghanistan: „Jetzt sieht die ganze Welt, dass dort keine Frau leben kann“

24. Jänner 2025

Beamte des österreichischen Innenministeriums reisten diese Woche nach Kabul, um mit den Taliban in Afghanistan über die Rückführung von Geflüchteten zu verhandeln. In derselben Woche beantragte der internationale Strafgerichtshof gegen deren höchstrangige Anführer Haftbefehle wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die österreichischen Bestrebungen, mit den Taliban als legitimen Verhandlungspartnern direkt Kontakt aufzunehmen, sind nicht zuletzt auch hinsichtlich der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom vergangenen Herbst äußerst fragwürdig. Dieser stellte fest, dass das Taliban-Regime diskriminierende Maßnahmen gegen Frauen anwendet, die in ihrer Gesamtheit als Verfolgung anerkannt werden müssen. Seitdem reicht es für die Zuerkennung des Asylstatus aus, dass eine Frau allein aufgrund ihres Geschlechts von diesen Maßnahmen in ihrem Herkunftsstaat betroffen ist, ohne dass zusätzliche individuelle Umstände vorliegen müssen. Sarah Moschitz-Kumar ist Rechtsanwältin und vertrat eine junge Afghanin in einem der beiden Anlassfälle für das Urteil des EuGH. Im Gespräch erklärt sie die Bedeutung des Urteils, warum es in Österreich dringend einen menschenrechtsbasierten Diskurs braucht und was wir alle dazu beitragen können. 

Wie bewerten Sie das Urteil des EuGH und welche Auswirkungen wird es Ihrer Meinung nach auf die Asylverfahren für Frauen aus Afghanistan in Österreich haben?

Sarah Moschitz-Kumar: Mit dem Urteil vom 4. Oktober 2024 traf der EuGH eine wichtige und weitreichende Entscheidung für den internationalen Schutz von Frauen und Mädchen, insbesondere hinsichtlich des Begriffs der Verfolgungshandlung und des Prüfungsumfangs ihrer Anträge. Der EuGH entschied, dass unter den Begriff der Verfolgungshandlung auch eine Kumulierung von frauendiskriminierenden Maßnahmen fällt, wie sie aktuell in Afghanistan gegen Frauen angewendet werden. Und er entschied, dass es für die Feststellung von Verfolgung ausreicht, dass eine Frau von diesen Maßnahmen in ihrem Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts, das heißt ohne Hinzutreten weiterer individueller Umstände, betroffen ist. Die nationalen Behörden und Gerichte müssen daher abgesehen von ihrer Staatsangehörigkeit und ihrem Geschlecht keine weiteren persönlichen Umstände feststellen, um einer Frau aus Afghanistan den Status der Asylberechtigten zuzuerkennen.

Sarah Moschitz Kumar
Sarah Moschitz-Kumar

Rechtsanwältin

Sarah Moschitz-Kumar

Rechtsanwältin

Sarah Moschitz-Kumar ist Rechtsanwältin in Graz und insbesondere auf Asyl-, Aufenthalts- und Staatsbürger*innenschaftsrecht spezialisiert. Sie vertrat eine junge Afghanin in einem der beiden Anlassfälle für das genannte Urteil des EuGH. Sie ist Teil des Netzwerks Asylanwält*innen.

In Reaktion auf das Urteil wurde vielfach die Sorge geäußert, das Urteil könnte dazu führen, dass Österreich letztlich alle verfolgten und entrechteten frauen aufnehmen muss. Schlagwörter der Debatte waren Verlust der Steuerung von Migration und Überforderung der Aufnahme Gesellschaften. das Urteil gehe zu weit. halten sie diese Aussicht für realistisch, die sorge für berechtigt?

Ich halte diese Szenarien für konstruiert. Im Diskurs nach Erlassung des Urteils des EuGH kamen alle möglichen „Expert*innen“ zu Wort, aber keine betroffene Frau und auch nicht meine Kollegin und ich, die sie im Verfahren vor dem EuGH vertreten hatten. Nicht die existenzielle Bedrohung von Frauen wurde als bedenklich bezeichnet, sondern deren Schutz. Ich halte das für unwürdig. Mitten im sicheren und reichen Europa den gefährdetsten Frauen der Welt ihren Schutzanspruch und ihr Recht auf Familienleben verwehren zu wollen, um rechten Wähler*innen zu gefallen, ist schäbig und zeigt einmal mehr, dass das von so vielen politischen Entscheidungsträger*innen behauptete Anliegen des Schutzes von Frauen und Kindern völlig unglaubwürdig ist.

Frauen hatten aufgrund ihres verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Achtung ihres Familienlebens schon bisher die Möglichkeit, nach der Zuerkennung von Schutz – der betreffend Afghanistan in der einen oder anderen Form ohnehin wahrscheinlich war – ihren Ehemann und ihre Kinder nach Österreich zu holen und sie damit in Sicherheit zu bringen. Die Vorstellung, dass nun alle Frauen aus Afghanistan, die dort nicht einmal alleine außer Haus gehen dürfen, plötzlich selbständig die gefährliche Flucht nach Europa antreten, ist realitätsfremd. Das war schon vor dem Urteil des EuGH so und wird es – bedauerlicherweise – auch danach sein. Den meisten Frauen ist es schlicht nicht möglich, Afghanistan zu verlassen.

Im Menschenrechtsschutz sind es oft europäische und internationale Institutionen, die – häufig gegen nationale Widerstände – für eine Verbesserung und Weiterentwicklung sorgen.

Sarah Moschitz-Kumar, Rechtsanwältin mit Spezialisierung auf Asyl-, Aufenthalts- und Staatsbürger*innenschaftsrecht

Welche Herausforderungen sehen sie bei der praktischen Umsetzung dieses Urteils in den österreichischen Asylverfahren?

Respekt vor den Entscheidungen des europäischen Höchstgerichts und deren Umsetzung sollten keine Herausforderung für die in Asylverfahren entscheidungsbefugte Behörde und das Gericht darstellen. Frauen aus Afghanistan nun trotzdem den Asylstatus zu verweigern, würde sehenden Auges grundlos Ressourcen verbrennen. Dies könnte auch eine Schadenersatzpflicht der Republik zur Folge haben – bei deren Geltendmachung ich gerne behilflich bin.

Welche Rolle spielen solche Gerichtsurteile für die langfristige Asylpolitik?

Im Menschenrechtsschutz sind es oft europäische und internationale Institutionen, die – häufig gegen nationale Widerstände – für eine Verbesserung und Weiterentwicklung sorgen. Gerade in Zeiten des Wiedererstarkens der extremen Rechten ist zu hoffen, dass diese Institutionen dem Rückbau menschenrechtlicher Errungenschaften entschieden entgegentreten.

Die beste Unterstützung, die die Zivilgesellschaft und deren Organisationen Menschen im Asylverfahren geben können, ist die Vermittlung qualifizierter Rechtsvertretung.

Sarah Moschitz-Kumar, Rechtsanwältin mit Spezialisierung auf Asyl-, Aufenthalts- und Staatsbürger*innenschaftsrecht

Was können österreichische Organisationen und die Zivilgesellschaft tun, um sicherzustellen, dass dieses Urteil auch praktisch umgesetzt wird?

Die beste Unterstützung, die die Zivilgesellschaft und deren Organisationen Menschen im Asylverfahren geben können, ist die Vermittlung qualifizierter Rechtsvertretung. Ausschließlich spezialisierte Personen und Organisationen sollten Menschen, für die es um alles geht, vertreten. Denn sie sind qualifiziert, deren Schutzanspruch gerichtlich durchzusetzen. Darüber hinaus liegt es an der Zivilgesellschaft, die immer stärker werdende extreme Rechte, die das Recht auf internationalen Schutz und die Europäische Menschenrechtskonvention abschaffen oder für ihre Zwecke ändern will, mit aller Macht zu bekämpfen. Es reicht einfach nicht, bloß „nicht rechtsextrem“ zu sein.

Das Urteil betont die systematische und bewusste Verfolgung von Frauen und Mädchen in Afghanistan. Glauben Sie, dass dieses Signal auch dazu beitragen könnte, die internationale Aufmerksamkeit für die Lage von Frauen in Afghanistan zu verstärken?

Selbstverständlich könnte es das. Dies setzt allerdings einen menschenrechtsbasierten Diskurs voraus, der – wie wir im Gefolge dieses Urteils leider beobachten mussten – von zu vielen Akteur*innen und Kommentierenden offenbar nicht erwartet werden kann. Wer will, kann sich über die Situation von Frauen in Afghanistan und anderer entrechteter Menschen auf der Welt informieren und sich für deren Schutz – auch durch entsprechende Wahlentscheidungen und Aufklärung im persönlichen Umfeld – einsetzen. 

Wie wichtig sind solche rechtlichen Durchbrüche für die betroffenen Frauen persönlich? Gibt es eine Geschichte oder ein Beispiel aus Ihrer Arbeit, das die Bedeutung dieses Urteils verdeutlicht?

Nach der völligen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan erhielt ich auch von in Österreich schon lange aufenthaltsberechtigten Personen verzweifelte Anfragen, ob ich den Frauen in Afghanistan nicht helfen könne. Ein Mann aus Afghanistan buchte sogar eigens eine Rechtsberatung, um mir die Situation von Frauen in Afghanistan zu schildern und mich zu fragen, was wir nun tun können. Er selbst hatte keine weiblichen Angehörigen in Afghanistan, hielt aber allein die Medienberichte für so unerträglich, dass er nicht untätig bleiben konnte. Viele Frauen aus Afghanistan verfolgten auch das Verfahren am EuGH und ersuchten mich regelmäßig um Updates und Einordnung. Die Erleichterung über das Urteil des EuGH lag nach meinem Eindruck weniger im für sie nun zu erwartenden besseren Status als in der Anerkennung ihrer völligen Entrechtung als grundlegend falsch: „Jetzt sieht die ganze Welt, dass dort keine Frau leben kann.“