Frauen in Afghanistan: „Die Ignoranz der Taliban ist nichts gegen die Kraft von Wissen und Bildung“
31. Jänner 2025 | Von Robina Azizi, Bildungsaktivistin und Gründerin von Girls on the Path of ChangeBis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 lebte ich mit meiner Familie in der Provinz Balkh im Norden Afghanistans. Ich hatte keine Sorgen, besuchte die Schule und arbeitete auf meinen Abschluss hin.
Ich hatte viel vor und versprach mir selbst, an einer angesehenen Universität zu studieren. Ich hatte die Hoffnung, eines Tages meinem Land und den Mädchen zu helfen, denen eine angemessene Bildung schon damals verwehrt wurde. Jeden Tag bemühte ich mich um besonders gute Noten. Ich lag nachts wach und freute mich darauf, am nächsten Morgen zur Schule zu gehen.
Am 10. August 2021 wollte ich mit meinen Freund*innen nach einer Schulprüfung nach Hause fahren. Ich hatte jedoch das ungute Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren würde. Auf dem Heimweg schaute ich in die Straßen und Gassen von Mazar-i-Sharif, als ob ich sie nie wieder sehen würde. Als ich nach Hause kam, packte meine Mutter bereits unsere Sachen.
„Wir haben dir ein Flugticket gebucht, wir müssen los. Die Taliban haben die Kontrolle über die Bezirke von Balkh übernommen. Sie könnten in die Stadt kommen“, erklärte sie. „Die Taliban nehmen Mädchen gefangen und zwingen sie zu heiraten. Das Leben deines Vaters, deines Bruders und deiner Schwester ist in Gefahr; wir müssen gehen. Du schreibst Texte und hast dich schon immer kritisch über die Taliban geäußert. Wenn sie deine Texte finden, werden sie dich töten.“
Am nächsten Tag flogen wir nach Kabul. Ich ließ alles hinter mir: meine Schule, meine Mitschüler*innen, meine Prüfungen, meine Träume und meine Bücher.
Lernen zu überleben
Als wir ankamen, war Kabul noch nicht gefallen und die Mädchen gingen noch zur Schule. Ich wollte mich ihnen anschließen. Ich schrieb an mich selbst: „Ich bin gekommen, um zu überleben.“ Dieser Satz wurde zu meinem Mantra. Jeden Tag gab es Nachrichten, dass die Taliban noch mehr Angst verbreiteten und immer mehr Provinzen einnahmen. Dennoch hoffte ich, nach Balkh zurückkehren und dort wieder zur Schule gehen zu können.
Doch nur fünf Tage später, am 15. August, kamen die Taliban nach Kabul zurück. Der Präsident floh, und die Taliban übernahmen innerhalb weniger Stunden die Kontrolle. Einen Monat später verkündeten sie ein Bildungsverbot für Mädchen im Sekundarschulalter.
Robina Azizi ist Bildungsaktivistin und Gründerin von Girls on the Path of Change (GPC).
Im Jahr 2021 floh Robina Azizi nach der Machtübernahme der Taliban aus der nordafghanischen Provinz Balkh. Sie verließ ihr Zuhause und ihre Schule, ließ alles zurück. Die Bedingungen in Afghanistan verschlechterten sich in diesen Tagen rapide. Schon bald verboten die Taliban Mädchen und Frauen den Besuch weiterführender Schulen und Universitäten. Schätzungsweise 1,4 Millionen Mädchen können ihr Recht auf Bildung seit Beginn der Taliban-Herrschaft vor drei Jahren nicht mehr wahrnehmen.
Robina Azizi lebt heute in Deutschland. Entschlossen, afghanischen Mädchen Chancen zu eröffnen, gründete sie Girls on the Path of Change (GPC). Die Organisation und Online-Community gibt afghanischen Mädchen die Möglichkeit, ihre Geschichten zu teilen und online zu lernen. Mit der Unterstützung von Organisationen wie Amnesty International besteht die Hoffnung, dass solche Initiativen weiter ausgebaut werden können. Ein nachhaltiges Handeln der internationalen Gemeinschaft ist jedoch unerlässlich, um den Druck auf die Taliban zu erhöhen und den Kreislauf der Unterdrückung zu beenden.
Da mir jede Hoffnung auf eine Rückkehr in die Schule genommen worden war, war mir klar, dass ich etwas tun musste. Ich kehrte zu meinen Büchern zurück und begann, mich für eine bessere Zukunft zu wappnen.
Robina Azizi, afghanische Bildungsaktivistin
Ich fand Bildungsangebote in Kabul, begann Englisch zu lernen und las wieder. Da es gefährlich war, öffentlich zu lernen, versuchte ich, die Kurse heimlich zu besuchen. Ich gab mir selbst das Versprechen, trotz der vielen Probleme für mich und die Mädchen meines Landes zu kämpfen. Ich begann, afghanische Familien zu sensibilisieren, ihnen die Bedeutung der Bildung ihrer Töchter zu verdeutlichen und sie zu ermutigen, sie weiter an entsprechenden Angeboten teilnehmen zu lassen.
Später meldete ich mich mit Hilfe meiner Lehrer*innen an einer Online-Schule an, obwohl mir die erforderlichen Unterlagen fehlten. Während ich dort in Ausbildung war, ermutigte ich andere Mädchen, sich mir anzuschließen, und half ihnen bei ihren Englischkursen. Die Tage vergingen, und ich begann mich an die Entbehrungen zu gewöhnen, die die unterdrückerische Herrschaft der Taliban mit sich brachte. Um mich selbst weiterzubringen und um meine Geschichte zu erzählen, sprach ich in verschiedenen Fernsehsendern – zum Beispiel Tolo – über die Bedeutung der Bildung von Mädchen.
Mädchen eine Chance geben
Wir waren schließlich gezwungen, Afghanistan zu verlassen, um unser Leben zu retten und um sicherzustellen, dass ich weiter zur Schule gehen konnte. Ich wusste, dass ich meine Mitschüler*innen, Freund*innen und diejenigen, die jeden Mut verloren hatten und Hilfe brauchten, unterstützen musste. Schließlich hatte ich am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn einem in Afghanistan alle Bildungsmöglichkeiten geraubt werden. Ich habe immer an die Mädchen dort gedacht und wollte ihnen beistehen.
Ich habe Girls on the Path of Change gegründet, um ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. So können sie ihre Probleme und Geschichten mit anderen teilen und bekommen gleichzeitig Zugang zu Online-Bildung, sodass sie ihr Studium fortsetzen können.
Meine Aktivitäten umfassen auch die Zusammenarbeit mit Organisationen wie Amnesty International, um sicherzustellen, dass der internationale Druck aufrechterhalten wird und, dass Regierungen auf der ganzen Welt für ihre Untätigkeit gegenüber dem systematischen Missbrauch und der Diskriminierung von Frauen und Mädchen durch die Taliban – die einer geschlechtsspezifischen Verfolgung gleichkommt – zur Rechenschaft gezogen werden.
Bildung ist unerlässlich, und Mädchen in Afghanistan dürfen keine Analphabet*innen bleiben. Afghanistan braucht starke, gebildete Frauen.
Robina Azizi, afghanische Bildungsaktivistin
Als Mädchen, das früher in Afghanistan lebte und seines Rechts auf Bildung beraubt wurde, rufe ich alle auf, die Bildung von Mädchen zu unterstützen. Bildung ist unerlässlich, und Mädchen in Afghanistan dürfen keine Analphabet*innen bleiben. Afghanistan braucht starke, gebildete Frauen. Wir dürfen nicht aufgeben, auch wenn wir von Zuhause aus kämpfen müssen. Zusammen müssen wir stark sein, uns entschlossen für Bildung einsetzen und beweisen, dass die Ignoranz der Taliban der Stärke von Wissen und Bildung nichts entgegenzusetzen hat.