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Griechenland: Asylsuchende illegal in EU-finanziertem Lager festgehalten

2. Dezember 2021

Zusammenfassung

  • Amnesty-Delegation besuchte das neue griechische Lager auf Samos und erhielt Informationen, dass Asylsuchende illegal festgehalten werden
  • Etwa 100 von 450 Bewohner*innen können das gefängnisähnliche Lager nicht verlassen
  • Durch rechtlich unklares Konzept der so genannten "geschlossenen Zentren" wird Asylsuchenden auf unbestimmte Zeit und unrechtmäßig ihre Freiheit entzogen
  • Amnesty fordert, dass die Freiheitsbeschränkungen sofort aufgehoben und Rechte der Menschen gewahrt werden müssen

In Folge eines bisher unveröffentlichten Entscheids des griechischen Ministeriums für Asyl und Migration werden Asylsuchende in einem neuen, von der EU finanzierten Flüchtlingslager auf der Insel Samos von den griechischen Behörden illegal festgehalten. Das geht aus Informationen hervor, die Amnesty International zugetragen wurden. Amnesty International fordert, dass die Einhaltung der Menschenrechte in den Flüchtlingslagern sichergestellt und die Freiheitsbeschränkungen der Asylsuchenden aufgehoben werden.

Rund 100 Menschen werden seit mehr als zwei Wochen illegal in einem von der EU finanzierten Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Samos festgehalten. Gemäß dem Beschluss des griechischen Ministeriums für Asyl und Migration dürfen seit dem 17. November Personen ohne gültige staatliche Ausweise (Asylkarten) das Lager auf unbestimmte Zeit nicht mehr verlassen. Der Beschluss gilt für Personen, denen die Karte aufgrund eines abgelehnten Asylantrags entzogen wurde, sowie für Neuankommende, die noch keine Karte erhalten haben. Nach inoffiziellen Schätzungen werden etwa 100 der rund 450 Bewohner*innen seit mehr als zwei Wochen daran gehindert, das einem Gefängnis ähnelnde Gelände zu verlassen, was eine Verletzung ihres Rechts auf Freiheit darstellt.

Dieses Lager ähnelt eher einem Gefängnis als einem Ort, an dem Menschen Schutz suchen. Das ist ein grober Missbrauch von EU-Geldern und ein schwerwiegender Verstoß gegen die Rechte der Bewohner*innen.

Adriana Tidona, Expertin für Migration bei Amnesty International

Leben in ständiger Überwachung hinter stacheldraht

Das neue, von der EU finanzierte "geschlossene Zentrum mit kontrolliertem Zugang" (KEDN) von Samos wurde an einem abgelegenen Ort sechs Kilometer von der Hauptstadt Vathi entfernt errichtet. Das Lager kann bis zu 3.000 Menschen aufnehmen und ist mit einem doppelten Stacheldrahtzaun umzäunt. Die strenge Überwachung umfasst Videokameras auf dem ganzen Gelände und eine ständige Präsenz von patrouillierenden Polizeikräften und privat beauftragten Sicherheitsbeamt*innen. 

Die Bewegungsfreiheit der Bewohner*innen ist stark eingeschränkt: Sie dürfen das Lager nur zwischen 8:00 Uhr morgens und 20:00 Uhr abends verlassen. Jedes Mal, wenn sie die magnetischen Tore passieren, müssen sie strenge Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen. 

Einzelpersonen und Familien, die von der Entscheidung vom 17. November betroffen sind, können das Lager nicht verlassen, um ihre tägliche Arbeit zu verrichten, am Unterricht oder an Gemeinschaftsaktivitäten im nahe gelegenen, von einer NGO betriebenen "Alpha-Land" teilzunehmen oder das Stadtzentrum zu erreichen.

A., ein afghanischer Mann aus Kabul, der mit seiner Frau und seinen Kindern in dem Lager lebt, ist seit Januar 2020 in Griechenland. Sein Asylantrag wurde mehrfach abgelehnt und seine Asylkarte eingezogen, so dass er die Einrichtung nicht verlassen konnte. Bevor er ins KEDN verlegt wurde, lebten er und seine Familie im "Dschungel", einer Zeltsiedlung um das alte Samos-Lager, die für ihre miserablen Lebensbedingungen berüchtigt ist. 

Sie haben uns wie Gefangene behandelt... Hier wirst du wirklich wahnsinnig. Du kannst nicht zurückgehen. Du kannst nicht vorwärts gehen...

H., Bewohner des Lagers auf Samos aus Kabul, Afghanistan

Im neuen Lager gebe es mehr Sicherheit, sagte er Amnesty International. Doch: "Sie haben uns wie Gefangene behandelt... Hier wirst du wirklich wahnsinnig. Du kannst nicht zurückgehen. Du kannst nicht vorwärts gehen... Ich kann nicht richtig schlafen. Die ganze Zeit leben wir ein Leben ohne Ziel, voller Angst." In den vergangenen fünf Tagen vor dem Gespräch mit Amnesty durften nur seine Kinder das Lager verlassen, um zur Schule zu gehen.

H., ein afghanischer Mann, der sich seit Februar 2020 in Griechenland aufhält und dessen Asylantrag zweimal abgelehnt wurde, hat das Lager seit fünf Tagen nicht mehr verlassen. Vor der Entscheidung vom 17. November war er sehr aktiv: "Ich habe Englisch gelernt und mich außerhalb des Lagers freiwillig engagiert. In den letzten fünf Tagen habe ich das Gefühl, ein Gefangener zu sein. Im alten Lager hatte ich wenigstens meine Freiheit."

Keine Möglichkeit zur Anfechtung

Amnesty International hat wiederholt Besorgnis darüber geäußert, dass Griechenland offene Lager durch "geschlossene Zentren mit kontrolliertem Zugang" ersetzt hat. Amnesty stellt außerdem in Frage, wie sich diese Politik mit Menschenrechtsstandards zu Freiheitsentzug vereinbaren lässt. Nach internationalem und EU-Recht können Asylsuchende nur als letztes Mittel, nach eingehender Prüfung ihrer individuellen Umstände, für die kürzestmögliche Zeit und im Rahmen eines gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens festgehalten werden.

Den Bewohner*innen des Lagers Samos wird automatisch und auf unbestimmte Zeit ihre Freiheit entzogen, und zwar aus undurchsichtigen und unrechtmäßigen Gründen, ohne dass sie die Möglichkeit haben, den Entschluss anzufechten.   

"Wie wir befürchtet haben, verstecken sich die griechischen Behörden hinter dem rechtlich unklaren Konzept der so genannten geschlossenen Zentren, um Asylsuchende rechtswidrig ihrer Freiheit zu berauben. Wir fordern Griechenland auf, diese Entscheidung dringend rückgängig zu machen und die Freiheitsbeschränkungen für die Bewohner*innen des Lagers auf Samos aufzuheben. Die Europäische Kommission muss die Einhaltung der Grundrechte in EU-finanzierten Einrichtungen sicherstellen", sagte Adriana Tidona.

Hintergrund: Amnesty-recherche zum Lager auf Samos

Eine Delegation von Amnesty International besuchte am 22. November 2021, dem fünften Tag der Restriktionen, das Gelände der "Geschlossenen kontrollierten Insellagereinrichtung" (KEDN) auf Samos und traf einige der betroffenen Bewohner*innen. 

Das KEDN auf Samos kostete 276 Millionen Euro. Die Gelder wurden von der Europäischen Kommission für den Bau neuer Einrichtungen für Asylsuchende auf den Ägäis-Inseln bereitgestellt, um die bestehenden, von der Regierung verwalteten offenen Lager zu ersetzen. Am 27. November weihten die griechischen Behörden die KEDNs auf Leros und Kos ein. Weitere KEDNs auf Lesbos und Chios werden folgen. 

Asylsuchende in ganz Griechenland haben seit zwei Monaten keine finanzielle Unterstützung mehr erhalten, nachdem die Verwaltung des EU-finanzierten Bargeldhilfeprogramms vom UNHCR auf die griechischen Behörden übergegangen war. Nach Angaben von NGOs in Griechenland sind derzeit etwa 34 000 Asylsuchende betroffen. Zudem haben die griechischen Behörden seit Oktober 2021 die Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser für anerkannte Geflüchtete und Asylsuchende, deren Antrag abgelehnt wurde, eingestellt.