Internationaler Gerichtshof befasst sich mit Vorwurf des Völkermords gegen Israel
12. Jänner 2024Gestern haben die ersten Anhörungen vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) zu einer Klage Südafrikas begonnen, in der der Staat Israel beschuldigt wird, gegen seine Verpflichtungen aus der UNO-Völkermordkonvention zu verstoßen. Die Klage Südafrikas könnte dazu beitragen, die palästinensische Zivilbevölkerung zu schützen und der humanitären Katastrophe im besetzten Gazastreifen ein Ende zu setzen.
Südafrika hat einen Antrag eingereicht, in dem es die Handlungen und Unterlassungen Israels gegenüber den Palästinenser*innen im Gazastreifen nach den Angriffen der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen am 7. Oktober 2023 als Völkermord bezeichnet.
Mit dem Antrag fordert Südafrika den Gerichtshof auf, „vorläufige Maßnahmen“ zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen anzuordnen, einschließlich einer Aufforderung an Israel, die militärischen Angriffe, die „Verstöße gegen die Völkermordkonvention darstellen oder verursachen“, unverzüglich einzustellen. Auch sollen auf Handlungen, die auf kollektive Bestrafung und Zwangsvertreibung hinauslaufen, beendet werden. Die ersten Anhörungen finden am 11. und 12. Januar vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag statt.
Die Jurisdiktion des Internationalen Gerichtshofs ist von entscheidender Bedeutung für die internationale Rechtsordnung. Hauptziele des humanitären Völkerrechts sind die Minimierung menschlichen Leids sowie der Schutz der Zivilbevölkerung. Die Untersuchung durch den IGH ist daher ein wichtiger Schritt, um das Leben der Palästinenser*innen in Gaza zu schützen.
Shoura Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
„Ziel muss außerdem sein, das Vertrauen in die universelle Anwendung des Völkerrechts zu stärken und den Weg für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer zu ebnen,“ sagt Shoura Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich.
Amnesty International hat nicht festgestellt, dass die Situation in Gaza einem Völkermord gleichkommt. Es gibt jedoch alarmierende Warnzeichen angesichts des erschreckenden Ausmaßes von Tod und Zerstörung mit mehr als 23.000 getöteten Palästinenser*innen in etwas mehr als drei Monaten und weiteren 10.000, die unter den Trümmern vermisst werden und vermutlich tot sind. Hinzu kommt eine Verschärfung der entmenschlichenden und rassistischen Rhetorik gegen Palästinenser*innen durch bestimmte israelische Regierungs- und Militärvertreter*innen.
Zusammen mit der völkerrechtlich illegalen Belagerung des Gazastreifens durch Israel, die den Zugang der Zivilbevölkerung zu Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung und Treibstoff abschneidet oder stark einschränkt, führt dies zu unvorstellbarem Leid und gefährdet das Überleben der Menschen im Gazastreifen.
Alle Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, Völkermord zu verhindern, und zwar nach der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 und, wie der IGH bereits festgestellt hat, nach dem Völkergewohnheitsrecht. Dies bedeutet, dass die Verpflichtung zur Prävention für alle Staaten bindend ist, auch für Staaten, die nicht Vertragsparteien der Konvention sind. Am 16. November 2023 warnte eine Gruppe von Uno-Expert*innen vor einem „sich anbahnenden Völkermord“ in den besetzten palästinensischen Gebieten und insbesondere im Gazastreifen.
Völkermord im Völkerrecht
Völkermord ist definiert als bestimmte Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine geschützte Gruppe wie eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten.
In den von Südafrika beantragten vorläufigen Maßnahmen wird Israel aufgefordert, Handlungen zu unterlassen, die unter Artikel II der Völkermordkonvention fallen, einschließlich der „Tötung von Mitgliedern einer geschützten Gruppe“ und der „absichtlichen Zufügung von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, die physische Zerstörung der Gruppe ganz oder teilweise herbeizuführen“. Die Anklageschrift fordert Israel auf, eine Zwangsumsiedlung von Palästinenser*innen zu verhindern und die Verweigerung des Zugangs zu angemessener Nahrung, Wasser, humanitärer Hilfe und medizinischer Versorgung für Palästinenser*innen zu stoppen.
Gemäß der Völkermordkonvention kann niemand, auch nicht die höchsten Regierungsvertreter*innen, persönliche Immunität für solche Handlungen beanspruchen. In dem Antrag Südafrikas an den IGH werden von Amnesty International zusammengetragene Beweise für Kriegsverbrechen und andere Verstöße gegen das Völkerrecht durch die israelischen Streitkräfte bei der intensiven Bombardierung des Gazastreifens angeführt, darunter direkte Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte, wahllose und andere ungesetzliche Angriffe, Zwangsvertreibungen von Zivilist*innen und kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung.
Der Begriff Völkermord oder Genozid ist im Völkerrecht, und insbesondere im Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, vom 9. Dezember 1948, verankert. Im Glossar über Menschenrechte in bewaffneten Konflikten findest du die wichtigsten Begriffe aus dem Völkerrecht erklärt.
Alle Verstöße müssen untersucht werden
Amnesty International fordert erneut die Untersuchung von Verstößen gegen das Völkerrecht durch alle Konfliktparteien und verurteilt auch die von der Hamas und anderen bewaffneten Gruppen am 7. Oktober begangenen Kriegsverbrechen, darunter Geiselnahmen und die vorsätzliche Tötung von Zivilist*innen, sowie den anhaltenden wahllosen Raketenbeschuss durch palästinensische Gruppen. Die entsetzlichen Berichte über sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, während des Angriffs der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen am 7. Oktober müssen gründlich und unabhängig untersucht werden.
Amnesty International fordert außerdem einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand sowie die Freilassung aller verbleibenden zivilen Geiseln, die von bewaffneten Gruppen in Gaza festgehalten werden, die Freilassung der von Israel willkürlich inhaftierten Palästinenser*innen und die Beendigung der illegalen Belagerung des Gazastreifens durch Israel.