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Seit dem Ausbruch der Proteste im Oktober 2019 wurden im Irak 600 Menschen von Sicherheitskräften getötet. Amnesty bestätigt den erneuten Einsatz scharfer Munition gegen Demonstrierende in den letzten Tagen: Allein zwischen dem 20. und 22. Jänner wurden 12 Menschen getötet.
Sicherheitskräfte haben ihre Kampagne mit tödlicher Gewalt gegen weitgehend friedliche Demonstrant*innen in Bagdad und in Städten im Südirak wieder aufgenommen. Das bestätigen die von Amnesty International analysierten Berichte von Augenzeug*innen und Videos aus dem Irak. Die Sicherheitskräfte setzten erneut scharfe Munition und tödliche Tränengas-Granaten ein. Sie verletzten oder verhafteten wieder zahlreiche Menschen, und folterten und misshandelten einige davon in der Haft.
„Diese beunruhigenden Hinweise deuten darauf hin, dass die irakischen Sicherheitskräfte ihre tödliche Repressionskampagne gegen Demonstrierende, die lediglich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung ausüben, wieder aufgenommen haben. Diese jüngste Eskalation ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass die irakischen Behörden keinerlei Absicht haben, diesen schweren Menschenrechtsverletzungen wirklich ein Ende zu setzen“, sagte Lynn Maalouf, Recherche-Leiterin von Amnesty International für den Nahen Osten. „Die Anwendung tödlicher Gewalt, um abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen, muss sofort beendet werden. Die Behörden hatten Monate Zeit, ihre Strategie zur gewaltsamen Unterdrückung zu beenden. Anstatt sie zu schützen wurden weitgehend friedliche Demonstrierende willkürlich getötet und verstümmelt.“
Zwei junge Männer, die von Amnesty International interviewt wurden, schilderten erschütternde Szenen, die sich am 21. Jänner bei der Mohammed al-Qasim-Autobahnüberführung in Bagdad ereignet hatten – etwa 1,2 Kilometer nordöstlich des Tahrir-Platzes, einem Schwerpunkt der Proteste.
In einigen Fällen griffen sie die Demonstrierenden an den Armen und warfen sie von der Überführung. Die Autobahnbrücke befindet sich etwa fünf bis sieben Meter über dem Boden.
Augenzeuge in Bagdad
Einer der Männer beschrieb, was geschah, als die Sicherheitskräfte eingriffen: "[Drei Demonstranten] starben, weil ihnen in den Kopf geschossen wurde. Einige der Demonstrierenden waren auf der Autobahn, es kam zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften. Diese setzten scharfe Munition ein, um die Protestierenden von der Autobahn zu vertreiben, und in einigen Fällen griffen sie die Demonstrant*innen an den Armen und warfen sie von der Überführung. Die Autobahnbrücke befindet sich etwa fünf bis sieben Meter über dem Boden."
Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International hat mehrere Videos geolokalisiert und verifiziert, die Ereignisse vom 21. Jänner entlang der Autobahnüberführung zeigen. Eines der Videos zeigt deutlich mehrere Fahrzeuge mit dem Logo eines Elite-SWAT-Teams, das dem Premierminister unterstellt ist.
Mehrere Videos von der Mohammed al-Qasim-Autobahnbrücke zeigen maskierte Männer in Uniform, die am 21. Jänner aus nächster Nähe Tränengas-Granaten direkt auf die Köpfe der Demonstrierenden schossen.
Einer der Demonstranten, der am 21. Jänner vor Ort war, sagte: „Ich habe gesehen, wie ein Mitglied der Anti-Riot-Einheit mit einer Tränengasgranate auf das Gesicht eines Jungen schoss. Er war nur ein oder zwei Meter entfernt, als er ihm ins Gesicht schoss. Es war schockierend. Wie eine Hinrichtung. Es brach Chaos aus. Ich dachte, er sei sicher tot, aber er hat überlebt. Er befindet sich in einem kritischen Zustand. Ein anderer Junge starb gestern, als ihn eine Granate am Kopf traf, aber das habe ich nicht mit meinen eigenen Augen gesehen.“
Mehrere schockierende Videos, die über soziale Medien verbreitet wurden, fingen die Momente ein, als die Opfer dieser Angriffe in Tuk Tuks vom Tatort weggebracht wurden. Laut verifizierten Videos und Aussagen von Augenzeug*innen wurde eine junge Sanitäterin, die verletzten Demonstranten half, von den Sicherheitskräften festgenommen und erst am nächsten Tag wieder freigelassen.
Bereits im Oktober und November setzten die Sicherheitskräfte Tränengas- und Rauchgranaten aus iranischer und serbischer Produktion ein, die für militärische Zwecke bestimmt sind. Dabei wurden Dutzende von Demonstrierenden getötet.
Weitere Augenzeug*innen berichteten Amnesty International, wie am Abend des 21. Jänner bewaffnete Mitglieder der Präsidialgarde Protestierende durch die Straßen von al-Dora, einem Wohn- und Geschäftsviertel einige Kilometer südlich des Stadtzentrums, jagten.
Ein junger Mann, der seit Oktober in die dortigen Proteste verwickelt war, sagte gegenüber Amnesty International: „Die Präsidentschaftskräfte am dortigen Hauptkontrollpunkt erhielten Unterstützung. Ein Lastwagen voll ... Sie waren jetzt alle bewaffnet und begannen, in die Luft zu schießen und Menschen zu verfolgen. Sie schlugen die Leute und schleppten sie weg. Sehr junge Burschen. Wir rannten durch die Al-Tuma-Straße. Dort gibt es Cafés und eine Sporthalle, und die Leute begannen, in die Geschäfte zu rennen. Sie verfolgten sie in die Läden und schleppten sie weg."
Sie nahmen auch jeden im Laden mit, der versuchte, den Demonstrierenden zu helfen. Sie nahmen den Leuten, die filmten, die Telefone ab und nahmen jeden mit, der sich weigerte, ihnen das Telefon zu übergeben.
Demonstrant in Al-Dora
Amnesty International hat auch Filmmaterial von al-Dora analysiert, das zeigt, wie Sicherheitskräfte nach Einbruch der Dunkelheit am 21. Jänner mit scharfer Munition auf fliehende Demonstrant*innen schossen.
Aktivist*innen in Basra beschrieben, wie die Sicherheitskräfte die Demonstrierenden am 21. und 22. Jänner mit scharfer Munition beschossen, niederknüppelten und gewaltsam auseinandertrieben.
Ein Aktivist, der den Demonstrierenden erste Hilfe leistete, sagte: „Die Sicherheitskräfte gingen mit den härtesten und schmutzigsten Mitteln gegen die Demonstrierenden vor. Sie schlugen so lange auf sie ein, bis ihre Kleider zerrissen und einige das Bewusstsein verloren, dann trugen sie sie auf die Rückseite der Fahrzeuge der Schocktruppen [dem Innenministerium angegliederte Sicherheitskräfte in Basra].“
Amnesty International hat fotografische Beweise schwerer Wunden auf dem Rücken eines Protestierenden gesehen, die auf Folter hindeuten. In den sozialen Medien wurde ein Video veröffentlicht, das offenbar in der Nähe der Al-Maqal-Polizeihauptquartier gefilmt wurde und in dem die Schreie der Häftlinge zu hören waren.
Ein Protestierender in Basra erzählte Amnesty International, wie die gewaltsame Niederschlagung in den letzten Tagen eskalierte, als Sicherheitskräfte verschiedener Einsatztruppen eintrafen:
Ich war Zeuge vieler Fälle, in denen die Sicherheitskräfte Menschen auf den Boden zerrten und sie verprügelten. Einige waren minderjährig, höchstens 14 oder 15 Jahre alt.
Augenzeuge in Basra
„Sie versuchten, die Proteste zu zerstreuen und jede Art von Versammlung mit Gewalt aufzulösen. Ich war Zeuge vieler Fälle, in denen die Sicherheitskräfte Menschen auf den Boden zerrten und sie verprügelten. Einige der Betroffenen waren minderjährig, höchstens 14 oder 15 Jahre alt. Wenn sie zurückkehrten, hatten sie Spuren von Knüppeln und Stöcken auf ihren Körpern."
Er beschrieb die exzessive Gewalt der Sicherheitskräfte während der Nächte vom 21. und 22. Jänner: „In den letzten beiden Nächten war es das gleiche Muster, die Sicherheitskräfte kommen zwischen 23:00 und 24:00 Uhr, wenn es weniger Demonstrierende gibt, und fingen an zu schießen. Es war, als kämen sie nur, um uns zu töten.“
Amnesty International hat Videos verifiziert, die zeigen, dass die Sicherheitskräfte in Basra mit scharfer Munition schossen und, dass am 21. Jänner eine offenbar verwundete Person die Dinar-Straße entlang getragen wurde.
„Dieses abscheuliche Muster von Tötungen, Folter und Repression muss unverzüglich gestoppt werden“, sagte Lynn Maalouf, und sagt weiter: „Tausende Iraker*innen wurden in den vergangenen vier Monaten willkürlich getötet, verletzt oder inhaftiert. Die irakischen Behörden müssen dringend die Sicherheitskräfte zügeln und die Verantwortlichen für die schweren Verstöße aus den Sicherheitskräften abziehen. Sie müssen gründliche, unabhängige Untersuchungen einleiten, um Rechenschaft und Wiedergutmachung für die Opfer und ihre Familien zu gewährleisten. Die Welt schaut genau hin.“