Woman Life Freedom Graffiti © Amnesty International
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Iran zwei Jahre nach „Frauen, Leben, Freiheit“: Straflosigkeit beenden!

11. September 2024

Die Menschen im Iran leiden nach wie vor unter den verheerenden Folgen der brutalen Niederschlagung der „Frau, Leben, Freiheit“- Bewegung durch die Behörden und der systematischen Straflosigkeit für völkerrechtliche Verbrechen. Daran erinnert Amnesty International heute im Vorfeld des zweiten Jahrestags der Proteste und appelliert an andere Staaten, nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten.

Bisher gab es keine wirksamen, unparteiischen und unabhängigen strafrechtlichen Ermittlungen zu den schweren Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsverbrechen, die von den iranischen Behörden während und nach den landesweiten Protesten von September bis Dezember 2022 begangen wurden, darunter der weitreichende und rechtswidrige Einsatz von Gewalt und Schusswaffen durch die Sicherheitskräfte. Sie setzten Schnellfeuerwaffen und mit Metallgeschossen und Tränengaskanistern geladene Schusswaffen ein und schlugen mit Schlagstöcken auf die Demonstrierenden ein. Dabei wurden Hunderte von Demonstrierenden und Umstehenden, darunter zahlreiche Kinder, rechtswidrig getötet und viele weitere lebensbedrohlich verletzt. Die Behörden haben versucht, Angehörige auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit für die rechtswidrige Tötung ihrer Angehörigen zum Schweigen zu bringen indem sie sie willkürlich inhaftierten, rechtswidrig verfolgten, mit dem Tod bedrohten und auf andere Weise erbarmungslos schikanierten.

Zwei Jahre später haben die Behörden ihre Angriffe auf die Menschenrechte weiter verschärft, indem sie in einem Krieg gegen Frauen und Mädchen immer gewaltsamer gegen alle vorgehen, die sich den drakonischen Kleidungsvorschriften widersetzen. Darüber hinaus setzen sie verstärkt die Todesstrafe ein, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen.

„Der Jahrestag der Proteste im Rahmen der Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ erinnert eindringlich daran, dass unzählige Menschen im Iran immer noch unter den Folgen des brutalen Vorgehens der Behörden zu leiden haben. Den Opfern, Überlebenden und ihren Angehörigen werden nach wie vor Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für Völkerrechtsverbrechen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen verweigert, die während der Proteste und danach von iranischen Staatsbediensteten begangen wurden“, sagt Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International, und sagt weiter:

„Die iranischen Behörden führen seit zwei Jahren eine Propagandakampagne aus Leugnung und Verzerrung, um Beweise für ihre Verbrechen zu vertuschen und zu versuchen, Überlebende und Familien von Opfern einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.“

Da es keine Aussicht auf unabhängige und unparteiische Ermittlungen im eigenen Land gibt, müssen andere Staaten unbedingt nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit strafrechtliche Ermittlungen durch ihre nationalen Staatsanwaltschaften zu den von den iranischen Behörden begangenen Verbrechen einleiten.

Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International

Verschärfung des „Krieges gegen Frauen“

Im Rahmen ihrer anhaltenden Bemühungen zur Zerschlagung der Frauenrechtsbewegung gegen den Kopftuchzwang, die seit dem Tod von Jina Mahsa Amini in Haft und der Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ stärker geworden ist, haben die iranischen Behörden im April 2024 eine neue landesweite Kampagne namens „Noor-Plan“ gestartet. Seitdem haben die zur Durchsetzung des Kopftuchzwangs eingesetzten Sicherheitspatrouillen zu Fuß, auf Motorrädern, in Autos und Polizeifahrzeugen im öffentlichen Raum deutlich zugenommen.

Im Rahmen dieses harten Vorgehens kam es auch zu gefährlichen Verfolgungsjagden auf der Straße, um Autofahrerinnen zum Anhalten zu bringen, zu Massenbeschlagnahmungen von Fahrzeugen, Inhaftierungen sowie Auspeitschungen und anderen Strafmaßnahmen, die den Tatbestand der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung erfüllen.

Im August 2024 kursierte in den Sozialen Medien ein verstörendes Video, auf dem zu sehen war, wie mehrere Sicherheitskräfte zwei 14-jährige Mädchen angriffen, die ihre Kopftücher abgenommen hatten. Eines der Mädchen, Nafas Hajisharif, berichtete in einem Medieninterview Folgendes: „Sie haben mich an den Haaren gezogen, mich angeschrien und beschimpft ... sie haben mich in den Transporter gesteckt und dort auf den Boden geworfen. Eine Beamtin hat mich geschlagen, mir mit ihrem Knie den Hals zugedrückt und meinem Kopf einen heftigen Schlag versetzt. Mein Kopf steckte zwischen den Sitzen fest, und sie haben mich in die Körperseite getreten.“

Unterdessen steht das iranische Parlament kurz vor der Verabschiedung eines „Gesetzes zur Förderung der Kultur der Keuschheit und des Kopftuchs“, mit dem die verschärften Angriffe der Behörden auf Frauen und Mädchen, die sich dem Kopftuchzwang widersetzen, legalisiert werden sollen.

Vermehrter Einsatz der Todesstrafe

Seit der Proteste im Rahmen der Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ wird die Todesstrafe von den iranischen Behörden verstärkt eingesetzt. 2023 griffen die Behörden mit der höchsten Zahl an Hinrichtungen in acht Jahren besonders häufig auf die Todesstrafe als Mittel der Unterdrückung zurück, um die Öffentlichkeit zu terrorisieren. Unverhältnismäßig stark betroffen von den Hinrichtungen war die ethnische Minderheit der Belutsch*innen.

Die Behörden haben seit Dezember 2022 zehn Männer im Zusammenhang mit den Protesten von September bis Dezember 2022 willkürlich willkürlich hinrichten lassen, darunter auch Reza (Gholamreza) Rasaei. Er wurde am 6. August 2024 heimlich hingerichtet.  

Mehr als ein Dutzend Menschen droht in Verbindung mit den Protesten auch weiterhin die Hinrichtung oder die Verurteilung zum Tode, darunter auch Mojahed Kourkouri.

Diese Eskalation beinhaltet auch die Verhängung der Todesstrafe gegen Frauen aufgrund politisch motivierter Anschuldigungen. Die Menschenrechtsverteidigerin Sharifeh Mohammadi und die kurdische Aktivistin Pakhshan Azizi wurden vor kurzem in getrennten Fällen der „bewaffneten Rebellion gegen den Staat“ (baghi) für schuldig befunden und von Revolutionsgerichten zum Tode verurteilt, und zwar allein wegen ihres friedlichen Engagements. Besorgniserregenden Berichten zufolge waren sie in der Haft Folter und anderweitigen Misshandlungen ausgesetzt. Mindestens zwei weitere Frauen, Wrisha Moradi und Nasim Gholami Simiyari, wurden ebenfalls in getrennten Fällen wegen „bewaffneter Rebellion gegen den Staat“ (baghi) verurteilt.

Sexualisierte Gewalt als Waffe 

Seit zwei Jahren leugnen die Behörden, dass während der Proteste festgenommene Personen von Sicherheitskräften gefoltert und anderweitigen Misshandlungen wie Vergewaltigung und anderen Formen sexualisierter Gewalt ausgesetzt wurden.

Während der Proteste haben die iranischen Sicherheits- und Geheimdienstkräfte in großem Umfang Folter und andere Misshandlungen an inhaftierten Demonstrierenden verübt. Im Dezember 2013 hat Amnesty International ausführlich über den erschütternden Einsatz von Vergewaltigungen, darunter auch Gruppenvergewaltigungen, sowie anderen Formen sexualisierter Gewalt berichtet. Sie wurden von den iranischen Behörden eingesetzt, um Proteste zu unterbinden und die Protestierenden, unter denen sich auch Kinder von gerade mal zwölf Jahren befanden, zu terrorisieren und zu bestrafen.

Notstand angesichts systemischer Straflosigkeit

Iranische Staatsbedienstete, die der strafrechtlichen Verantwortung für Verbrechen unter dem Völkerrecht und andere Menschenrechtsverletzungen verdächtigt werden, entziehen sich auch weiterhin der Justiz.

Der UN-Menschenrechtsrat hat das Mandat der UN-Ermittlungsmission für den Iran (FFMI) im April 2024 verlängert, doch weigern sich die iranischen Behörden nach wie vor, mit dem unabhängigen Gremium zusammenzuarbeiten, und verweigern dessen Mitgliedern den Zugang zum Land.

Amnesty International schließt sich den Empfehlungen der FFMI an alle Staaten an. Diese sehen vor, strafrechtliche Ermittlungen gegen iranische Staatsbedienstete einzuleiten, die nach dem Grundsatz der universellen Gerichtsbarkeit hinreichend verdächtigt werden, Straftaten im Sinne des Völkerrechts begangen zu haben, und zwar unabhängig davon, ob sich die beschuldigte Person in ihrem Hoheitsgebiet aufhält oder nicht. Außerdem sollen „strukturelle Ermittlungen zur allgemeinen Situation im Zusammenhang mit den Protesten von 2022 ohne konkrete Tatverdächtige eingeleitet“ werden.