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Der zehnte Jahrestag des Massakers von Rabaa ist eine Mahnung, dass die straflos gebliebene Massentötung von über 900 Menschen im Verlauf der vergangenen zehn Jahre zu einem umfassenden Angriff auf friedlichen Dissens, zu einer Aushöhlung jeglicher Garantien für ein faires Gerichtsverfahren im Strafjustizsystem und zu unaussprechlicher Grausamkeit in Gefängnissen geführt hat.
In einer ausführlichen Analyse zeigt Amnesty International zehn Menschenrechtsverletzungen auf, die seit dem Massaker am 14. August 2013 in Ägypten weit verbreitet sind.
Am 14. August 2013 hatten Militär- und Sicherheitskräfte Sitzstreiks von Anhänger*innen der Muslimbruderschaft und dem gestürzten Präsidenten Muhammed Mursi auf dem al-Nahda-Platz und dem Rabaa al-Adawiya-Platz in Kairo gewaltsam aufgelöst. In den zehn Jahren, die seither vergangen sind, wurde noch niemand für das Blutvergießen zur Rechenschaft gezogen – ein Zeichen für fehlende Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Familien der Opfer und Überlebende von Folter, Verschwindenlassen, außergerichtlichen Hinrichtungen und anderen rechtswidrigen Tötungen sowie willkürlichen Inhaftierungen.
Die vergangenen zehn Jahre lassen sich nur als ‚Jahrzehnt der Schande‘ beschreiben. Das Massaker von Rabaa war ein Wendepunkt. Von da an haben die ägyptischen Behörden eine erbarmungslose Null-Toleranz-Politik gegen Andersdenkende verfolgt.
Philip Luther, Direktor des Bereichs Recherche und Lobbyarbeit für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International
„Seither wurden unzählige Kritiker*innen und Oppositionelle bei Straßenprotesten getötet, ins Gefängnis gesteckt oder genötigt, ins Exil zu gehen“, so Philip Luther, Direktor des Bereichs Recherche und Lobbyarbeit für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
„Angesichts des Ausbleibens einer tragfähigen und koordinierten Reaktion auf das Massaker von Rabaa seitens der internationalen Gemeinschaft konnten die ägyptischen Militär- und Sicherheitskräfte mit Massenmord – im wörtlichen Sinn – davonkommen. Ägypten kann aus seiner fortdauernden Menschenrechtskrise nicht herauskommen, solange niemand für die Handlungen der ägyptischen Behörden an diesem dunkelsten Tag in der neueren Geschichte Ägyptens zur Rechenschaft gezogen wird. Staaten, die Einfluss auf Ägypten haben, müssen die Forderungen von Überlebenden, Familien von Opfern und Menschenrechtsverteidiger*innen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung aufgreifen,“ sagt Philip Luther.
Die ägyptische Regierung geht seit 2013 gegen Straßenproteste mit drakonischen Gesetzen vor, die das Recht auf friedliche Versammlung effektiv kriminalisieren, sowie durch den Rückgriff auf rechtswidrige Gewaltanwendung und Massenfestnahmen.
Auch wenn es mit der Einführung der Nationalen Menschenrechtsstrategie im September 2021 und dem lang erwarteten Nationalen Dialog im Mai 2023 in jüngster Zeit Ansätze einer Reform gab, wird das harte Vorgehen weiter fortgesetzt und Kritiker*innen des Staates landen nach wie vor in Haft. Zwar wurden seit der Wiedereinsetzung des präsidialen Begnadigungssausschusses 2022 Hunderte von Dissident*innen freigelassen, doch sind Mitglieder und Unterstützer*innen der Muslimbruderschaft ausgenommen von offiziellen Amnestien. So befinden sich noch immer Tausende rechtswidrig hinter Gittern.
Die Behörden haben drakonische Gesetze zur Terrorismusbekämpfung sowie andere repressive Maßnahmen eingeführt und eingesetzt, um Tausende von Kritiker*innen ohne Anklage oder Verfahren in verlängerter Untersuchungshaft festzuhalten, manchmal sogar für Zeiträume, die das nach ägyptischem Recht zulässige Maximum von zwei Jahren überschreiten.
Vor Notstands- oder Militärgerichten oder speziellen Terrorismusabteilungen von Strafgerichten wurden Hunderte von Personen in äußerst unfairen, von Folter geprägten Massenprozessen zum Tode oder zu langen Gefängnisstrafen verurteilt.
In den vergangenen zehn Jahren haben die Behörden verstärkt auf die Todesstrafe zurückgegriffen, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Die Gerichte verhängten Tausende von Todesurteilen, und die Behörden ließen mehr als 400 Menschen hinrichten. Im September 2018 verhängte ein Strafgericht in Kairo in einem grob unfairen Massenprozess gegen 612 Personen wegen ihrer Teilnahme am Sitzstreik in Rabaa 75 Todesurteile sowie 47 lebenslange Haftstrafen und weitere Gefängnisstrafen zwischen fünf und 15 Jahren. Am 14. Juli 2021 wurde die Todesstrafe gegen zwölf von ihnen, darunter führende Mitglieder der Muslimbruderschaft, vom Berufungsgericht bestätigt.
Die ägyptischen Behörden haben in den vergangenen zehn Jahren jegliche unabhängige Berichterstattung unterdrückt, ihre Kontrolle über die Medien gefestigt und gehen mit einer ganzen Reihe repressiver Maßnahmen hart gegen Journalist*innen vor, die es wagen, vom offiziellen Narrativ abzuweichen. Zu diesen Maßnahmen gehören die Festnahme und strafrechtliche Verfolgung Dutzender Journalist*innen, die nur ihre Arbeit machen, Online-Zensur sowie Razzien gegen unabhängige Medien.
Die unabhängige Zivilgesellschaft wird durch die Verabschiedung des repressiven Gesetzes Nr. 149/2019 unterdrückt. Das Gesetz räumt den Behörden unverhältnismäßig große Befugnisse im Zusammenhang mit der Zulassung, den Aktivitäten, der Mittelbeschaffung und der Auflösung von NGOs ein.
Darüber hinaus sind Menschenrechtsverteidiger*innen erbarmungslosen Angriffen wie der ungerechtfertigten Strafverfolgung, willkürlicher Inhaftierung, Reiseverboten, dem Einfrieren von Vermögen und anderen Formen der Schikanierung ausgesetzt.
Die Personen, die im Zuge des Vorgehens der Sicherheitskräfte in Rabaa festgenommen wurden, sowie Tausende weiterer Personen sind unter grausamen und unmenschlichen Bedingungen in ägyptischen Gefängnissen inhaftiert. Seit 2013 sind Dutzende Menschen im Gewahrsam gestorben, weil man ihnen Berichten zufolge die medizinische Versorgung verweigert hat oder sie gefoltert wurden. Zu den Opfern gehören der gestürzte Präsident Muhammed Mursi sowie Essam El-Erian, ein führendes Mitglied der Muslimbruderschaft. Sie starben nach jahrelangen unbeantwortet gebliebenen Beschwerden über die schlechten Haftbedingungen und der Verweigerung medizinischer Versorgung 2019 bzw. 2020 im Gefängnis.
Folter und andere Misshandlungen sind weit verbreitet und systematischer Natur. Überlebende und Augenzeug*innen berichten vom Einsatz von Elektroschocks, vom Aufhängen an den Gliedmaßen sowie von zeitlich unbegrenzter Einzelhaft, Schlägen und der bewussten Verweigerung medizinischer Versorgung.
Personen, die der Beteiligung an terroristischen Aktivitäten oder an Protesten verdächtigt werden, werden von Sicherheitskräften regelmäßig über Zeiträume von einigen Tagen bis zu 23 Monaten ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten, ohne dass ihre Angehörigen und Rechtsbeistände etwas über ihr Schicksal und ihren Verbleib erfahren. In dieser Zeit sind die Häftlinge Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt und werden zu „Geständnissen“ gezwungen oder dazu, andere zu belasten.
Die Behörden behaupten zwar, die Rechte von Frauen und Minderheiten zu respektieren und zu schützen, diskriminieren Menschen aber wegen ihres Geschlechts, ihrer geschlechtlichen Identität, ihrer sexuellen Orientierung oder wegen ihrer religiösen Überzeugung.
Die Massenverfolgung von Mitgliedern und Unterstützer*innen der Muslimbruderschaft steht im krassen Kontrast zu dem Versäumnis, Ermittlungen durchzuführen, um alle zur Verantwortung zu ziehen, die an der Anordnung, Planung oder Durchführung des Massakers vom 14. August 2013 beteiligt waren.
Ein im Dezember 2013 vom damaligen Interimspräsidenten Adly Mansour eingesetzter Untersuchungsausschuss kam zu dem Schluss, dass Anführer*innen der Proteste für die Tötungen in Rabaa verantwortlich seien und sprachen die Sicherheitskräfte weitgehend von einer Verantwortung frei. Zusätzlich verschärft wurde die Straflosigkeit, als der ägyptische Präsident Adel Fattah al-Sisi 2018 ein Gesetz ratifizierte, das hochrangigen Militärangehörigen Immunität vor der Strafverfolgung gewährt.
„Der düstere Jahrestag heute sollte die internationale Gemeinschaft daran erinnern, wie dringend notwendig es ist, sinnvolle Wege zur Gewährleistung der Rechenschaftspflicht zu schaffen. Dazu gehört beispielsweise die Schaffung eines Überwachungs- und Berichtsmechanismus zur Lage der Menschenrechte in Ägypten beim UN-Menschenrechtsrat“, meint Philip Luther.
„Außerdem müssen die Staaten öffentlich wie privat Druck auf die ägyptischen Behörden ausüben, damit Tausende willkürlich inhaftierter Kritiker*innen und Oppositionelle, darunter auch Personen mit Verbindungen zur Muslimbruderschaft, wieder freigelassen werden.“
Vor zehn Jahren, am 16. August 2013, Jahren befand sich Badr Mohamed zufällig in der Nähe der Proteste auf dem Ramses-Platz in Kairo. Die Sicherheitskräfte gingen gewaltsam gegen Protestierende vor, 97 Menschen kamen dabei ums Leben. Badr wurde gemeinsam mit hunderten anderen verhaftet. Er war damals 17 Jahre alt. Nach drei Monaten Haft in einem Gefängnis für Erwachsene kam Badr im November 2013 wieder frei. Doch im Mai 2020 wurde er in Kairo vor den Augen seiner Frau, einer Salzburgerin, die zu dieser Zeit ihr erstes Kind erwartete, von Sicherheitskräften verhaftet. Im Jänner 2023 wurde er heute 27-Jährige in einem grob unfairen Verfahren zu fünf Jahren Haft verurteilt. Wir fordern Badr Mohameds sofortige und bedingungslose Freilassung! Untersütze jetzt den Online-Appell an die ägyptischen Behörden.