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Ob SOS Balkanroute oder Lobau-Protest: Ungläubig habe ich verfolgt, wie ICMPD und Stadt Wien offensichtlich versuchten, die kritische Zivilgesellschaft mit Klagen einzuschüchtern. David und Goliath lassen grüßen.
Das Prinzip ist einfach: Eine meist gut mit Ressourcen ausgestattete Klagspartei deckt eine Einzelperson oder deutlich weniger finanzstarke Organisation mit einer Klage ein, weil diese ihr unbequem ist. Ob die Klage gewonnen wird, ist sekundär – was zählt ist der Effekt. Solche Klagen werden „SLAPPs“ genannt, das steht für Strategic Lawsuits Against Public Participation. SLAPPs haben den Zweck, Menschen einzuschüchtern, die sich kritisch zu öffentlichen Themen äußern. Dabei geht es den Kläger*innen nicht darum, ein Recht einzufordern: Sie möchten Kritiker*innen gezielt einschüchtern und mundtot machen. Das Phänomen gibt es nicht nur in Österreich: Im Jahr 2023 liefen in Europa mehr als 820 Einschüchterungsklagen gegen Journalist*innen, Protestierende, Whistleblower*innen oder Menschen, die Machtmissbrauch anprangern.
Advocacy & Research Officer bei Amnesty International Österreich
Advocacy & Research Officer bei Amnesty International Österreich
Charlotte Deiss ist Juristin und als Advocacy & Research Officer bei Amnesty International Österreich für den Bereich der Meinungsäußerungs-, Informations- und Pressefreiheit zuständig.
SLAPPs sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass Kläger*innen unverhältnismäßig hohe Geldsummen verlangen oder gegen einzelne Menschen vorgehen statt gegen deren Arbeitgeber*in. Selbst wenn eine SLAPP-Klage vor Gericht keinen Erfolg hat, leiden die Betroffenen: Ein Gerichtsverfahren kann lange dauern und eine enorme Belastung darstellen. Finanziell, wegen den hohen Anwaltskosten, die sie vorab bezahlen müssen, beruflich, weil es ihrem Ruf schadet, und nicht zuletzt natürlich psychisch.
Das gefährdet die Meinungs- und Pressefreiheit massiv. Es kann nämlich dazu führen, dass Journalist*innen und Kritiker*innen Angst davor bekommen, ihre Meinung öffentlich zu sagen und schließlich verstummen.
Wenn das passiert, ist auch die Informationsfreiheit betroffen, und zwar für uns alle: Taten von einflussreichen oder vermögenden Personen und Unternehmen werden nicht mehr öffentlich hinterfragt. Missstände, Korruption und politische Vorgänge werden nicht mehr aufgedeckt und diskutiert. Die Menschen wissen nicht ausreichend Bescheid, um informierte Entscheidungen zu treffen, zum Beispiel bei einer Wahl. Dabei ist die freie Kommunikation von Informationen und Ideen über öffentliche und politische Themen ein wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie.
Die Europäische Union hat im März dieses Jahres eine sogenannte „Anti-SLAPP-Richtlinie“ beschlossen, die Menschen vor diesen Klagen schützen soll. Österreich muss jetzt bis Mai 2026 eine Reihe von Maßnahmen gegen SLAPPs einführen.
So sollen zum Beispiel Gerichte SLAPP-Klagen rasch abweisen und Strafen gegen Kläger*innen verhängen können. Außerdem müssen Personen, die sich öffentlich äußern, Zugang zu Informationen über Verfahrensgarantien, Rechtsbehelfe und Unterstützung (zum Beispiel Prozesskostenhilfe, finanzielle und psychologische Unterstützung) haben. Das ist grundsätzlich alles begrüßenswert und dringend notwendig.
Wer möchte schon in einem Österreich leben, in dem sich nur mehr die besonders mutigen Menschen öffentlich trauen, Kritik zu üben und ihre Meinung zu äußern? Ich jedenfalls möchte das nicht.
Charlotte Deiss, Advocacy & Research Officer bei Amnesty International Österreich
Es gibt aber eine große Einschränkung: Das alles gilt nur für Fälle, die über die Landesgrenzen hinweg passieren und auch nur, wenn es um zivilrechtliche Klagen geht, zum Beispiel auf Schadenersatz oder Unterlassung. Für Fälle, die nur in Österreich ablaufen, gibt es keinen Schutz. Auch nicht für Straf- oder Verwaltungsverfahren. Für Verfahren, wie jenes gegen den bekannten Kolumnisten und Kabarettisten Florian Scheuba, gäbe es mit den EU-Vorschriften allein kein Sicherheitsnetz. Ihm wird vom Direktor des Bundeskriminalamts die Straftat der üblen Nachrede vorgeworfen.
Die Zahlen zeigen jedoch, dass es Schutzmaßnahmen für eben solche Fälle braucht: 20 Prozent der 2023 in Europa erfassten SLAPPs betrafen strafrechtliche Vorwürfe und 90 Prozent davon bezogen sich auf Fälle innerhalb eines einzigen Staates.
Es ist also für die Gesetzgeber*innen einiges mehr zu tun, als die EU vorgibt. Auch die Europäische Kommission ruft die Mitgliedstaaten dazu auf, ähnliche Schutzmaßnahmen auch für innerstaatliche Fälle vorzusehen und etwa Haftstrafen wegen Verleumdung abzuschaffen.
Gerade angesichts des aktuellen Pressefreiheits-Rankings, bei dem Österreich auf dem bisher schlechtesten 32. Platz liegt, wäre das eine Gelegenheit, um die Meinungs- und Informationsfreiheit nachhaltig zu stärken. Wer möchte schon in einem Österreich leben, in dem sich nur mehr die besonders mutigen Menschen öffentlich trauen, Kritik zu üben und ihre Meinung zu äußern? Ich jedenfalls möchte das nicht.
Titelbild: Prozess ICMPD gegen SOS-Balkanroute, Juli 2023