Mitglieder der tunesischen LGBTQIA+-Community 2024 bei einer Demonstration gegen Analuntersuchungen und Artikel 230 des Strafgesetzbuchs (der Homosexualität zwischen Männern unter Strafe stellt). © FETHI BELAID / AFP / picturedesk.com
Mitglieder der tunesischen LGBTQIA+-Community 2024 bei einer Demonstration gegen Analuntersuchungen und Artikel 230 des Strafgesetzbuchs (der Homosexualität zwischen Männern unter Strafe stellt). © FETHI BELAID / AFP / picturedesk.com
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Tunesien: Behörden gehen mit einer Welle von Festnahmen verstärkt gegen LGBTQIA+ Community vor

13. Februar 2025

Die tunesischen Behörden haben ihr Vorgehen gegen LGBTQIA+ Personen (lesbische, schwule, bisexuelle, trans, intergeschlechtliche, queere, agendered und asexuelle Menschen) verschärft und in den vergangenen Monaten Dutzende von Festnahme vorgenommen, so Amnesty International heute.

Zwischen dem 26. September 2024 und dem 31. Januar 2025 wurden nach Angaben der tunesischen NGO Damj Association for Justice and Equality in den Städten Tunis, Hammamet, Sousse und El Kef mindestens 84 Personen – hauptsächlich schwule Männer und trans Frauen – allein aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität festgenommen, willkürlich inhaftiert und zu Unrecht strafrechtlich verfolgt.

Die jüngste Zunahme der Festnahmen von LGBTQIA+ Personen ist ein alarmierender Rückschritt für die Menschenrechte in Tunesien. Niemand sollte aufgrund seiner sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität festgenommen, strafrechtlich verfolgt oder inhaftiert werden.

Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International

„Anstatt Personen aufgrund von Geschlechterstereotypen und tief verwurzelten homofeindlichen Einstellungen zu schikanieren, müssen die tunesischen Behörden alle Personen, die aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität inhaftiert sind, unverzüglich und bedingungslos freilassen und Maßnahmen zum Schutz der Rechte von LGBTQIA+ Personen einführen“, sagte Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

Amnesty International befragte vier LGBTQIA+ Rechtsaktivist*innen und drei Anwält*innen, die Personen vertreten, die zwischen September und Dezember 2024 wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität festgenommen wurden. Die Organisation prüfte auch rechtliche Dokumente und offizielle Erklärungen.

Eine Welle von Festnahmen

Zur der Festnahmewelle kam es nach einer groß angelegten Online-Kampagne, die am 13. September 2024 begann und bei der homofeindliche und transfeindliche Hassreden und diskriminierende Rhetorik gegen LGBTQIA+ Aktivist*innen und -Organisationen auf Hunderten von Social-Media-Seiten verbreitet wurden, darunter auch auf Seiten, die den tunesischen Präsidenten Kais Said unterstützten. Auch die traditionellen Medien verbreiten hetzerische Botschaften populärer Fernseh- und Radiomoderator*innen, die LGBTQIA+ Organisationen angreifen und zu deren Auflösung sowie zur Festnahme von LGBTQIA+ Aktivist*innen aufrufen.

Schwule Männer und trans Menschen werden in Tunesien häufig aufgrund von Geschlechterstereotypen, ihres Verhaltens oder ihres Aussehens festgenommen. Nach Angaben von Anwält*innen, die LGBTQIA+ Personen vertreten, werden häufig digitale Beweise, die nach der Festnahme rechtswidrig von ihren Geräten beschlagnahmt werden, zur Strafverfolgung verwendet. Die meisten Festgenommenen berichten ihren Anwält*innen, dass ihre Telefone von Polizeibeamt*innen beschlagnahmt und illegal durchsucht werden.

Die Kriminalisierung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen macht LGBTQIA+ Personen anfällig für Gewalt und Missbrauch durch die Polizei, die häufig ihre Angst vor Verhaftung und Strafverfolgung ausnutzt und ihnen mit einem Outing droht, sie erpresst und mitunter auch sexuell missbraucht. In einigen Fällen waren die Festgenommenen Opfer von Phishing und  Anstiftungen zu einer Straftat in den Sozialen Medien oder auf Dating Apps durch Sicherheitskräfte geworden. Einige Personen berichteten Damj, dass sie von Sicherheitskräften in eine Falle gelockt wurden, die sich als LGBTQIA+ in Sozialen Medien und bei gleichgeschlechtlichen Dating-Apps ausgaben, um sie zu erpressen, u. a. durch die Androhung, sie zu outen, zu verleumden oder festzunehmen, u. a. wegen „der Anbahnung von Prostitution im Netz“. Anwält*innen berichten auch über eine Zunahme von Polizeirazzien ohne Durchsuchungsbefehl in Wohnungen von LGBTQIA+ Personen im Jahr 2024.

Missbräuchliche Strafverfolgung aus Gründen der „Moral“ und „Unsittlichkeit"

Die Festgenommenen werden auf der Grundlage von Paragraf 230, der gleichgeschlechtliche Beziehungen (für „Sodomie und Lesbianismus“) unter Strafe stellt, und/oder den Paragrafen 226 und 226a des Strafgesetzbuchs, die „Unsittlichkeit“ und Handlungen, die gegen die „öffentliche Moral“ verstoßen, unter Strafe stellen, festgenommen und verfolgt. Paragraf 230 sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren und eine Geldstrafe vor, während die Paragrafen 226 und 226a eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten vorsehen.

„Paragrafen im Strafgesetzbuch, die „öffentliche Unsittlichkeit“ oder Handlungen, die „gegen die guten Sitten oder die öffentliche Moral“ verstoßen, unter Strafe stellen, sind besonders gefährlich, da sie zu weit gefasst und vage sind und nicht dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit entsprechen, was einen großen Auslegungsspielraum und Unregelmäßigkeiten ermöglicht“, sagte Diana Eltahawy.

Diese zu weit gefassten Bestimmungen und ihre subjektive und ermessensabhängige Anwendung ermöglichen es den Strafverfolgungsbehörden, Personen pauschal festzunehmen, nur weil sie sich nicht an die Geschlechternormen halten oder ein nicht konformes Aussehen oder einen nicht konformen Gesichtsausdruck haben.

Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International

Gezielte Ansprache von LGBTQIA+ Aktivist*innen

Auch LGBTQIA+ Aktivist*innen und Verbände sind zunehmend Schikanen seitens der Behörden ausgesetzt. Die Queer-Aktivist*innen Saif Ayadi, Assala Madoukhi und Mira Ben Salah wurden mehrmals zu Verhören vorgeladen, zuletzt im Oktober und November 2024. Die Polizei verhörte sie zu ihrem Aktivismus, ihrer Arbeit in zivilgesellschaftlichen Organisationen und ihrer Teilnahme an Protesten. Mira Ben Salah, eine Trans-Aktivistin und Koordinatorin des Damj-Büros in Sfax, wurde wiederholt im Zusammenhang mit der Arbeit der Organisation, darunter mit Migrant*innen und Flüchtlingen, verhört. Gegen Mira sind im Zusammenhang mit ihrer Arbeit mit Damj mehrfach Anklagen erhoben worden. Sie wartet nun auf den Ausgang der Ermittlungen.

Im Juli 2023 und im Februar 2024 reichte Mira Ben Salah bei der Staatsanwaltschaft des Gerichts erster Instanz in Sfax Klage wegen wiederholter Belästigung durch die Polizei ein. Sie berichtete Amnesty International: „Ich wurde sehr oft wegen meiner Arbeit und meines Aktivismus vorgeladen und befragt, aber als ich Anzeige wegen Belästigungen, Drohungen und Gewalt erstattete, wurde ich weder als Zeugin geladen noch wurden meine Anzeigen ernst genommen.“ Sie fügte hinzu, dass die Ermittlungen der Behörden gegen sie zügig voranschreiten, während die Untersuchung ihrer eigenen Anzeigen keine Fortschritte macht.

Wenn Politik Menschenrechte opfert, braucht es unabhängige Stimmen, die laut bleiben.

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