Ukraine: Neue Amnesty-Recherchen bestätigen den Einsatz von Streumunition durch russische Truppen in Charkiw
13. Juni 2022Zusammenfassung
- Neuer Amnesty-Bericht: Russische Truppen verwendeten in Charkiv verbotene Streumunition
- In der Region Charkiw wurden seit Ausbruch des Kriegs 606 Zivilpersonen getötet
- Die meisten der von Amnesty International untersuchten Angriffe führten in einem großen Radius zu zahlreichen Todesfällen.
- Unter anderem wurde ein Spielplatz mit solcher Munition beschossen.
In der ukrainischen Stadt Charkiw töteten russische Truppen durch unterschiedslosen Beschuss mit weithin verbotener Streumunition und ungenau abgefeuerten Raketen Hunderte Zivilpersonen.
Dies stellte Amnesty International in einem neuen Bericht mit dem Titel ‘Anyone can die at any time’: Indiscriminate attacks by Russian forces in Kharkiv, Ukraine, fest. Er dokumentiert, wie die russischen Truppen seit Beginn der Ukraine-Invasion Ende Februar durch den unablässigen Beschuss von Wohngegenden für Tod und Zerstörung sorgen.
Durch umfassende Recherche fand Amnesty International Beweise dafür, dass russische Truppen wiederholt Streumunition des Typs 9N210/9N235 sowie Streuminen eingesetzt haben – beide sind völkerrechtlich wegen ihrer Unterschiedslosigkeit verboten.
Menschen wurden zuhause und auf der Straße, auf Spielplätzen und auf Friedhöfen, beim Anstehen für Hilfslieferungen und beim Einkaufen von Nahrungsmitteln oder Medikamenten getötet.
Donatella Rovera, Amnesty-Expertin für Recherche in Krisengebieten
„Der wiederholte Einsatz von weithin verbotener Streumunition ist schockierend und zeugt von absoluter Verachtung gegenüber dem Leben von Zivilpersonen. Die russischen Truppen, die für diese furchtbaren Angriffe verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen und die Betroffenen und ihre Angehörigen vollumfänglich entschädigt werden“, so Rovera weiter.
Der Leiter der medizinischen Abteilung der militärischen Regionalverwaltung in Charkiw sagte Amnesty International, dass in der Region Charkiw seit Ausbruch des Kriegs 606 Zivilpersonen getötet und 1.248 verletzt wurden. Die meisten der von Amnesty International untersuchten Angriffe führten in einem großen Radius zu zahlreichen Todesfällen.
Russland ist weder dem Übereinkommen über Streumunition noch dem Antipersonenminen-Übereinkommen beigetreten, doch das humanitäre Völkerrecht verbietet sowohl willkürliche Angriffe als auch den Einsatz von Waffen, die ihrer Natur nach unterschiedslos sind. Willkürliche Angriffe, die zu Toten oder Verletzten in der Zivilbevölkerung führen oder zivile Objekte beschädigen, sind als Kriegsverbrechen zu betrachten.
Spielplätze unter Beschuss
Am Nachmittag des 15. April beschossen russische Truppen die Gegend um die Myru-Straße im Bezirk Industrialnyi mit Streumunition. Mindestens neun Zivilpersonen wurden dabei getötet und mehr als 35 verletzt, darunter auch mehrere Kinder. Ärzt*innen der Stadtklinik Nr. 25 in Charkiw zeigten Amnesty International Metallsplitter, die sie aus dem Körper ihrer Patient*innen entfernt hatten; einige davon konnten eindeutig Streumunition vom Typ 9N210/9N235 zugeordnet werden.
Auf einem Spielplatz in der Nähe wurde die 41-jährige Oksana Litvynyenko in Begleitung ihres Mannes Ivan und ihrer vierjährigen Tochter durch explodierende Streumunition schwer verletzt. Granatsplitter drangen in ihren Rücken, ihre Brust und ihren Bauch ein und durchbohrten ihre Lunge und ihr Rückgrat. Sie verstarb tragischerweise am 11. Juni 2022. Dieser Angriff fand in der Nachmittagszeit statt, so dass viele weitere Familien ebenfalls mit ihren Kindern auf dem Spielplatz waren.
Ivan Litvynyenko berichtete Amnesty International am 26. April: „Plötzlich sah ich einen Lichtblitz... Ich riss meine Tochter an mich und drückte sie und mich an einen Baum, so dass sie zwischen dem Baum und mir in Sicherheit war. Es war sehr viel Rauch entstanden und ich konnte nichts sehen... Als der Rauch sich auflöste, sah ich Menschen am Boden liegen... meine Frau Oksana lag am Boden.“
Als meine Tochter ihre Mutter in einer Blutlache am Boden liegen sah, sagte sie zu mir: ‚Lass uns nach Hause gehen. Mama ist tot und die Leute sind tot.‘ Sie stand unter Schock, genau wie ich. Ich weiß immer noch nicht, ob meine Frau sich wieder erholen wird. Die Ärzt*innen können nicht sagen, ob sie jemals wieder sprechen oder laufen können wird. Unsere Welt wurde auf den Kopf gestellt.
Ivan Litvynyenko, Charkiv
Nach mehr als einem Monat auf der Intensivstation hatte sich der Zustand von Oksana Litvynyenko etwas verbessert. Am 11. Juni 2022 erlag sie allerdings ihren Verletzungen.
Researcher von Amnesty International haben auf dem Spielplatz Metallteile und andere Bestandteile gefunden, die eindeutig von Streumunition des Typs 9N210/9N235 stammen.
Am Nachmittag des 12. März verlor Veronica Cherevychko, eine 30-jährige Logistikmanagerin und Mutter, ihr rechtes Bein, als auf dem Spielplatz vor ihrem Haus im Stadtteil Saltivka eine mittels des Mehrfachraketenwerfersystems BM-21 (9K51 Grad) abgefeuerte Rakete einschlug.
Ungelenkte Raketen wie z. B. Grads und Uragans, die von russischen Truppen routinemäßig eingesetzt werden, werden ungenau abgefeuert und richten daher in dicht bevölkerten Gegenden unterschiedslos Schäden an. Artilleriegeschosse weisen eine Fehlerspanne von mehr als 100 Metern auf. In Wohngebieten, in denen die Gebäude nur wenige Meter voneinander entfernt stehen, führen derartige Zielverfehlungen fast unausweichlich zu Toten unter der Zivilbevölkerung sowie zur Beschädigung und Zerstörung ziviler Infrastruktur.
Umgekehrt führten ukrainische Truppen häufig Angriffe von Wohngegenden aus durch, was das Leben der dortigen Zivilpersonen aufs Spiel setzte. Dies verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht, rechtfertigt jedoch keineswegs die wiederholten unterschiedslosen Angriffe durch russische Truppen.
Methodik
Ermittlungsteams von Amnesty International untersuchten in Charkiw im April und Mai über einen Zeitraum von 14 Tagen hinweg 41 Angriffe (in denen mindestens 62 Menschen getötet und mindestens 196 verletzt wurden) und sprachen mit 160 Personen, u. a. Überlebenden, Augenzeug*innen, Familienangehörigen von Opfern sowie Ärzt*innen, die Verletzte behandelten. Die Amnesty-Mitarbeiter*innen sammelten und analysierten Sachbeweise an bombardierten Orten, wie z. B. Munitionssplitter, und werteten verschiedenes digitales Material aus.