© AFP via Getty Images
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Ukraine: Russische Bomben töten Menschen bei einer Essensausgabe

10. März 2022

Neue Untersuchung und Zeugenaussagen zu Luftangriff in Tschernihiw deuten auf Kriegsverbrechen hin

Amnesty International wirft Russland einen rücksichtlosen Luftangriff auf Zivilpersonen in der ukrainischen Stadt Tschernihiw am letzten Donnerstag vor. Mehrere ungelenkte Bomben schlugen auf einem öffentlichen Platz ein und forderten nach offiziellen ukrainischen Berichten 47 Todesopfer. Alle ausgewerteten Hinweise deuten auf ein weiteres Kriegsverbrechen durch die russischen Streitkräfte hin.

Am Donnerstag, 3. März, gegen 12.15 Uhr wurde der kleine öffentliche Platz zwischen den Straßen Viacheslava Chornovola und Kruhova in Tschernihiw von mehreren Bomben getroffen, die zahlreiche Menschen töteten und die umliegenden Gebäude schwer beschädigten. Bei den Opfern handelt es sich nach ukrainischen Angaben um Zivilpersonen. Die meisten von ihnen standen an einer Essensausgabe an.

Auf der Grundlage neuer Befragungen sowie der Überprüfung und Analyse von Videobeweisen ist das Krisenreaktionsteam von Amnesty International zum Schluss gekommen, dass es sich bei dem Angriff höchstwahrscheinlich um einen russischen Luftangriff handelte, bei dem mindestens acht ungelenkte Fliegerbomben – so genannte „dumb bombs“ – eingesetzt wurden.

Einer der tödlichsten Angriffe bisher

Dieser schockierende Angriff ist einer der tödlichsten, die das ukrainische Volk bisher ertragen musste. Dies war ein gnadenloser, wahlloser Angriff auf Menschen, die in ihren Häusern, Straßen und Geschäften ihren täglichen Pflichten nachgingen", sagt Joanne Mariner, Direktorin für Krisenreaktion bei Amnesty International.

Der Internationale Strafgerichtshof sollte diesen Luftangriff als Kriegsverbrechen untersuchen. Diejenigen, die für solche Verbrechen verantwortlich sind, müssen vor Gericht gestellt werden. Die Opfer und ihre Familien müssen volle Entschädigung erhalten.

Joanne Mariner, Direktorin für Krisenreaktion bei Amnesty International

Die Regionalverwaltung von Tschernihiw gab an, dass 47 Menschen (38 Männer und neun Frauen) bei dem Angriff getötet wurden. Verifiziertes Filmmaterial des Angriffs zeigt, dass acht Bomben dicht hintereinander abgeworfen wurden und in einer Reihe fielen, wie es für einen solchen Fliegerangriff typisch ist.

Amnesty International konnte kein legitimes militärisches Ziel am Ort des Angriffs oder in dessen Nähe identifizieren. Satellitenbilder vom 28. Februar zeigen eine Schlange von Menschen vor dem Gebäude, das von dem Angriff betroffen war. Auf der Grundlage dieser Bilder und von Zeugenaussagen geht Amnesty International davon aus, dass die meisten Opfer in einer Schlange um Essen anstanden, als die Bomben einschlugen.

Alles wurde zerstört

Als die Bomben einschlugen, befand sich Alina, eine 21-jährige Studierende, mit ihrer Familie in ihrer Wohnung in der nahe gelegenen Ivana-Bohuna-Straße.

Sie erzählte Amnesty International: „Ich hörte ein sehr, sehr lautes Summen, und ich spürte, wie unser Gebäude bebte. Es war, als würde sich unsere Wohnung aufblähen... Und dann, nach zwei Sekunden, hörte ich, wie die Fenster gegen den Innenhof zersprangen. Unser Gebäude wackelte sehr stark; ich dachte, es gäbe keine Wände mehr. Als ich das Summen hörte, rief ich meine Oma zu mir in den Korridor. Wir haben uns auf den Boden gelegt. Das hat uns wahrscheinlich gerettet.“

Alinas Eltern befanden sich auf der Straße, als die Explosion stattfand. Sie überlebten den Angriff.

Ich weiß nicht mehr, ob es meine Mutter oder mein Vater war, einer von ihnen sagte: 'Nein, die Schlange ist zu lang, lass uns gehen.' Und so gingen sie. Die Leute, die in dieser Schlange standen, gibt es nicht mehr.

Alina, 21-jährige Studierende aus Tschernihiw

Yulia Matvienko, eine 33-jährige Mutter von drei Kindern, war mit ihren Kindern zu Hause, ebenfalls in der Ivana-Bohuna-Straße, als der Angriff stattfand. Sie erlitt eine Kopfverletzung und erzählte Amnesty International: „Ich ging den Korridor entlang und hatte es noch nicht einmal in die Küche geschafft, als ich plötzlich taub wurde; ich verstand nicht, was passierte. Plötzlich begann alles zu bröckeln und zu fallen. Die Kinder schrien. Mehrere Sekunden lang war es still und die Zeit stand still. Dann zerrte ich meine Kinder unter den Trümmern hervor.
Das Blut floss an mir herunter, und ich zog meine Kinder heraus.
Alles war zerstört, und die Tür [zu ihrem Gebäude] war rausgebrochen. Es gab kein einziges Fenster mehr, und einige Balkone waren völlig abgerissen. Die Kinder haben keinen Kratzer abbekommen. Es ist ein Wunder... [es war] nur mein Blut an ihnen.“

Auf Dashcam-Aufnahmen des Angriffs ist fallende Munition zu sehen und das Geräusch eines wahrscheinlich tief fliegenden Flugzeugs zu hören, was der Taktik eines solchen Angriffs entspricht. Der Abwurf von ungelenkten Bomben in bewohnten Gebieten verstößt gegen das Verbot wahlloser Angriffe. Solche Bomben haben eine großflächige Wirkung und sind weit weniger genau als präzisionsgelenkte Munition.

Überprüfung durch Crisis Evidence Lab

Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International verifizierte Aufnahmen von den Folgen des Anschlags, die Schäden an Gebäuden und Leichen auf der Straße zeigen. Weitere überprüfte Videos zeigen weitreichende Zerstörungen und mindestens einen ausgeprägten Bombenkrater, dessen Größe mit dem Einschlag von etwa 500 kg schwerer Munition übereinstimmt.

Es gibt weitere Hinweise auf den Einsatz ungelenkter Fliegerbomben durch die russischen Streitkräfte: Aufnahmen von einem anderen Luftangriffsort in der Ukraine zeigen einen Blindgänger einer ungelenkten FAB-500 M62-Bombe, der von Zivilschutzkräften entfernt wird. Darüber hinaus zeigt ein vom russischen Militär am 6. März veröffentlichtes offizielles Video den Start eines Su-34 Fullback-Flugzeugs, das mit acht FAB-500-Bomben beladen ist - ein Indikator für die typische Kampflast bei aktuellen russischen Operationen.

„Alle Staaten sollten mit dem Internationalen Strafgerichtshof und der neuen, vom Uno-Menschenrechtsrat eingesetzten Untersuchungskommission zusammenarbeiten, um die Rechenschaftspflicht für schwere Verletzungen und Verbrechen wie diesen Angriff sicherzustellen. Den Opfern dieses Konflikts muss Gerechtigkeit widerfahren“, sagte Joanne Mariner.

Amnesty International hat bereits in der Vergangenheit dazu aufgerufen, dass das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte während des Konflikts in der Ukraine von allen Parteien respektiert werden müssen.

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