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Proteste in Bangladesch: Am Wochenende 9.000 Menschen inhaftiert – Gewalt gegen Demonstrierende muss aufhören

30. Juli 2024

Die Behörden in Bangladesch reagieren auf die Proteste von Studierenden gegen ein umstrittenes Quotensystem im öffentlichen Dienst mit Waffengewalt und Massenverhaftungen. Mindestens 200 Menschen wurden getötet, mehrere Tausend verletzt. Amnesty International hat Videos und Fotos verifiziert, die die tödliche Gewalt belegen. Über das Wochenende wurden 9.000 Menschen verhaftet, darunter Protestierende, führende Studierendenaktivist*innen und Mitglieder von Oppositionsparteien. Die Regierung von Bangladesch muss das Recht auf Protest respektieren und die gewaltsame Unterdrückung der Proteste sofort beenden, fordert Amnesty International.

„Berichte deuten darauf hin, dass diese Verhaftungen ausschließlich politisch motiviert sind und eine Vergeltung für die Wahrnehmung von Menschenrechten darstellen. Die bangladeschischen Behörden müssen das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung respektieren,“ sagt Smriti Singh, Regionaldirektor für den Süasien bei Amnesty International.

Die Massenverhaftung und willkürliche Inhaftierung von protestierenden Student*innen ist eine Hexenjagd der Behörden, um alle zum Schweigen zu bringen, die es wagen, die Regierung zu kritisieren. Es ist ein Mittel, um ein Klima der Angst aufrechtzuerhalten.

Smriti Singh, Regionaldirektor für den Süasien bei Amnesty International

Videos und Fotos belegen: Behörden setzen rechtswidrig tödliche Gewalt ein

Die Armee wurde eingesetzt, der Schießbefehl wurde erteilt und eine Ausgangssperre verhängt: Mit exzessiver Gewalt hat die Regierung in Bangladesch auf die Proteste der Studierenden reagiert. Zwischenzeitlich war die Internetverbindung im Land unterbrochen, was die Beobachtung der Menschenrechtslage erschwerte.

"Amnesty International fordert die Regierung von Bangladesch und ihre Behörden dringend auf, die gewaltsame Niederschlagung der Proteste zu beenden und alle Kommunikationsbeschränkungen unverzüglich aufzuheben", sagte Deprose Muchena, Senior Director bei Amnesty International.

Die Proteste brachen aus, nachdem die Regierung die Wiedereinführung eines Quotensystems für gut bezahlte und sichere Regierungsposten angekündigt hatte. Diese begünstigt unter anderem Nachkommen von Personen, die 1971 zur Unabhängigkeit des Landes von Pakistan beigetragen haben. Am 21. Juli 2024 hatte das Oberste Gericht in der Hauptstadt Dhaka Teile der umstrittenen Quotenregelung gekippt. Das Gericht entschied, dass bei der Vergabe der begehrten Stellen nun in 93 Prozent der Fälle die Leistungen der Bewerber*innen entscheidend sein soll. Lediglich für die restlichen sieben Prozent soll eine Quotenregelung kommen. 

Zeug*innenaussagen, Videos und Fotos belegen, dass die Polizei rechtswidrig Gewalt gegen die protestierenden Studierenden angewendet hat. Das bestätigen Recherchen von Amnesty International und dem Crisis Evidence Lab – einem Team aus Amnesty-Expert*innen, die digitale Hinweise und Indizien verifizieren.

Amnesty überprüft und analysiert laufend Video- und Fotomaterial aus Bangladesch – und das Bild ist düster. Die bangladeschische Regierung und das Rapid Action Battalion (RAB), das zur Überwachung der Proteste eingesetzt wurde, haben eine erschreckende Menschenrechtsbilanz. Diese lässt befürchten, dass die Rechte der Demonstrierenden nicht geschützt werden, zumal es keine aktive internationale Beobachtung gibt und Internet- und Kommunikationsbeschränkungen teilweise noch in Kraft sind.

Deprose Muchena, Senior Director bei Amnesty International

Geschlagen, getreten und liegengelassen: Der Fall von Shykh Aashhabul Yamin

Zu den von Amnesty untersuchten Fällen gehört Shykh Aashhabul Yamin, Student des Military Institute of Science and Technology: Am 18. Juli 2024 tauchten in den sozialen Medien mehrere Videos auf, die einen Demonstranten zeigten, der bei einer Demonstration in Savar nahe der Hauptstadt Dhaka bei Zusammenstößen mit der Polizei verletzt und getötet wurde. 

Das erste Video zeigt einen gepanzerten Mannschaftstransportwagen (APC), der auf dem Dhaka-Aricha Highway fährt. Auf dem Dach liegt der bewusstlose Shykh Aashhabul Yamin. Ein zweites Video zeigt, wie ein Beamter versucht, Yamin an den Armen hochzuziehen, während ein anderer Beamter ihn an den Beinen packt und seinen Körper gewaltsam aus dem Fahrzeug reißt. Yamins Kopf schlägt auf dem Bürgersteig. Das letzte Video beginnt damit, dass zwei Beamte in voller Einsatzmontur aus dem APC steigen und scheinbar auf den vor ihnen am Boden liegenden Körper von Yamin herabblicken. Schließlich heben die Beamten Yamin vom Boden auf, ziehen ihn über den Mittelstreifen der Straße und legen ihn auf der anderen Seite neben einer anderen Gruppe von Beamten ab. Schließlich fährt der APC davon. Berichten zufolge erlag Yamin später an diesem Tag seinen Verletzungen.

In diesen drei von Amnesty International überprüften Videos hat keiner der sichtbaren Beamten versucht, medizinische Hilfe für Yamin zu leisten. Abschnitt 5(c) der Grundprinzipien für die Anwendung von Gewalt und den Gebrauch von Schusswaffen durch Beamt*innen mit Polizeibefugnissen der Vereinten Nationen legt allerdings fest: Vollzugsbeamt*innen müssen sicherstellen, dass verletzte oder betroffene Personen so schnell wie möglich Hilfe und medizinische Versorgung erhalten. 

Aus nächster Nähe erschossen: Der Fall von Abu Sayed

Abu Sayed, ein Student der Anglistik an der Begum Rokeya Universität in Rangpur, blieb stehen. Als die Polizei näher kam, breitete er in einem Moment des Widerstands seine Arme weit aus. In einem offenbar vorsätzlichen und ungerechtfertigten Angriff schossen die Polizisten direkt auf seine Brust. Mindestens zwei Polizeibedienstete feuerten mit 12-Kaliber-Schrotflinten von der anderen Straßenseite aus direkt auf ihn – in einer Entfernung von nur 15 Metern.

Sayed stellte für die Polizei offensichtlich keine physische Bedrohung dar. Auf dem Totenschein von Sayed stand, dass er „tot“ ins Krankenhaus gebracht wurde. Er war erst 25 Jahre alt. Das Video von Sayeds brutaler Ermordung löste Empörung aus und wurde zu einem Symbol für die Gewalt gegen Demonstrierende in Bangladesch seit dem 15. Juli 2024.

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Campus BRAC-Universität: Mindestens 30 Verletzte durch den Einsatz von Tränengas

Derrick Pounder ist unabhängiger Gerichtsmediziner, der die fotografischen Beweise für die Wunden in Shykh Aashhabul Yamins Brust untersucht hat. Gegenüber Amnesty International erklärte er, dass die Todesursache vermutlich auf die sichtbaren Verletzungen durch Schrotkugeln in der linken vorderen Brust zurückzuführen ist. Amnesty International hält den Einsatz von Schrotkugeln für die Strafverfolgung für absolut ungeeignet. Diese sollten niemals für die Auflösung von Protesten eingesetzt werden.

In einem weiteren Video, das am 18. Juli 2024 veröffentlicht wurde, feuert ein Beamter Tränengas durch ein geschlossenes Tor der BRAC-Universität in Dhaka. Dort kam es ebenfalls zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der Polizei und protestierenden Studierenden. Ein Video, das aus dem Inneren der Universität aufgenommen wurde, zeigt den Vorfall: Student*innen hatten sich auf der anderen Seite eines geschlossenen Hofes versammelt, als der bangladeschische Polizeibeamte durch das Tor der Universität in die Menge schoss.

Amnesty International hat die Videos überprüft: Das Vorgehen des Polizeibeamten stellt eindeutig eine rechtswidrige und unnötige Gewaltanwendung dar. Strafverfolgungsbehörden dürfen niemals Tränengas in einem geschlossenen Raum einsetzen, in dem es keine offensichtliche Möglichkeit gibt, dem Reizstoff zu entkommen. Lokalen Medienberichten zufolge wurden mindestens 30 Personen durch den Einsatz von Tränengas auf dem Campus der BRAC-Universität verletzt.

Ein weiteres Video kursiert seit dem 20. Juli 2024 in den sozialen Medien und wurde ebenfalls von Amnesty verifiziert. Es zeigt mehrere Beamt*innen der Polizei von Bangladesch und des Grenzschutzes von Bangladesch, die neben einem Einsatzwagen stehen. Ein Polizist richtet dabei ein chinesisches Sturmgewehr vom Typ 56-1 auf Ziele im Hintergrund und feuert zwei Schüsse ab.

Schusswaffen gegen Protestierende 

Schusswaffen sind kein geeignetes Mittel zur Überwachung von Versammlungen. Sie dürfen nur eingesetzt werden, wenn dies zur Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben unbedingt erforderlich ist.

In einem anderen Video sieht man Polizeibeamt*innen, die in voller Einsatzkleidung eine Straße entlang marschieren. Das Video wurde ebenfalls im Stadtteil Rampura am oder vor dem 19. Juli 2024 aufgenommen. Die Beamt*innen sind mit Schrotflinten vom Kaliber 12 sowie Granatwerfern vom Kaliber 37/38 mm ausgerüstet. Einige der Polizeibeamt*innen geben mehrere Schüsse aus den Schrotflinten auf Ziele im Hintergrund ab.

"Diese repressiven Maßnahmen sind ein bewusster Versuch, sowohl diese Proteste als auch jeden zukünftigen Dissens zu unterdrücken", sagt Deprose Muchena. "Es muss dringend eine unabhängige und unparteiische Untersuchung aller von den Sicherheitskräften begangenen Menschenrechtsverletzungen durchgeführt werden. Alle Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Opfer rechtswidriger Gewaltanwendung durch die Polizei, einschließlich der Verletzten und der Familienangehörigen der Getöteten, müssen vom Staat voll entschädigt werden."