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© Sergey Bobok/AFP via Getty Images

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Ukraine: Bildung von Kindern ist weiteres Opfer des russischen Angriffskriegs

11. Dezember 2023

Zusammenfassung

  • Kinder erhalten „versteckten“ Unterricht, um Repressalien zu vermeiden 
  • Angst und Einschüchterung für diejenigen, die sich der russischen Indoktrination widersetzen 
  • Nötigung von Lehrer*innen verursacht Lehrer*innenmangel

Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine riskieren die unter russischer Besatzung lebenden Menschen brutale Repressalien, wenn sie versuchen, ukrainischen Unterricht fortzusetzen. Einige Eltern verstecken ihre Kinder, um zu verhindern, dass sie in „Umerziehungs“-Einrichtungen gebracht oder in Russland adoptiert werden oder dass sie zwangsweise in Schulen eingeschrieben werden, die nach dem russischen Lehrplan arbeiten. Dies geht aus dem neuen Amnesty International Bericht „Ukraine: Children’s education is one more casualty of Russian aggression“ hervor.

„Amnesty International hat 23 Bildungsmitarbeiter*innen und 16 Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter befragt, die unter russischer Besatzung lebten oder noch leben. Wir haben Beweise gesammelt, dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu einer erheblichen und weit verbreiteten Unterbrechung des Unterrichts in der Ukraine geführt hat. In den von Russland besetzten Gebieten sind Einschüchterung und Zwang für Familien, Kinder und Lehrpersonen tägliche Realität. Niemand ist vor Russlands endloser Aggression in der Ukraine sicher“, sagte Anna Wright, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Amnesty International, über die Ergebnisse.

Wir haben Beweise gesammelt, dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu einer erheblichen und weit verbreiteten Unterbrechung des Unterrichts in der Ukraine geführt hat. In den von Russland besetzten Gebieten sind Einschüchterung und Zwang für Familien, Kinder und Lehrpersonen tägliche Realität.

Anna Wright, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Amnesty International, über die Ergebnisse

Kinder müssen „versteckt“ unterrichtet werden, um Repressalien zu vermeiden

Auf dem Höhepunkt ihres Angriffskrieges besetzten die russischen Streitkräfte etwa ein Viertel des ukrainischen Territoriums und kontrollieren auch heute noch etwa ein Fünftel davon. Trotz des Risikos von Repressalien versuchten manche Lehrer*innen und Eltern einige Monate nach der Besetzung, den Schulunterricht nach dem ukrainischen Lehrplan zu organisieren.

Schüler*innen und Eltern wurden zu Partisan*innen, die in ihren Gärten Löcher gruben, um Laptops und Mobiltelefone zu verstecken, oder sich auf Dachböden und in alten Schuppen versteckten, um ein Mobilfunksignal zu erwischen.

Regionaler Bildungsbeauftragter in der Ukraine

Uliyana*, eine Schulbibliothekarin, berichtete Amnesty International, dass sie heimlich Treffen mit Schüler*innen organisieren musste, um ihnen Bücher zu geben, während russische Militärpatrouillen in den Straßen ihres Dorfes oft willkürliche Durchsuchungen durchführten.

Einige Eltern haben sich entschieden, die Schulbildung ihrer Kinder um deren Sicherheit willen abzubrechen. Polina, eine Mutter von zwei Kindern, erzählte, dass ihre Kinder während der neunmonatigen russischen Besatzung nur wenige Male das Haus verlassen haben, weil sie Angst hatten, nach Russland gebracht zu werden.

Anhaltende Angst und Einschüchterung für die Bewohner*innen der besetzten Gebiete

Kseniya*, die Mutter des 15-jährigen Jungen Kyrylo* aus einem besetzten Dorf in der Region Kherson, berichtete Amnesty International von einem Hausbesuch durch eine Lehrperson im Frühjahr 2022. Die*der Lehrer*in fragte Kyrylo, ob er die Schule besuchen würde, wenn sie im September wieder geöffnet wird. Kseniya antwortete, dass Kyrylo nicht in die Schule gehen würde. Anfang September kamen daraufhin Männer in russischer Militäruniform und drohten ihnen: „Wenn ihr morgen nicht in der Schule erscheint, wird der Bus nächste Woche kommen und euch in ein Waisenhaus in Russland bringen“. Kyrylo kehrte in die Schule zurück und musste feststellen, dass diese mit russischen Staatssymbolen geschmückt war und bewaffnetes Personal an der Tür und im Gebäude stationiert war.

Eine Lehrperson aus der besetzten Gemeinde Berdiansk in der Region Saporischschja, die die besetzten Gebiete im Juli 2022 verlassen hat, hält weiterhin Online-Unterricht für Kinder ab, die noch in der besetzten Gemeinde leben. Die*der Lehrer*in berichtete Amnesty International, dass die Kinder nun gezwungen werden, die russische Nationalhymne zu lernen und zu singen. Denjenigen, die sich weigern, wird gedroht, dass sie ihren Eltern weggenommen und zur „Umerziehung in russische Waisenhäuser“ gebracht werden.

In derselben Schule wurde an alle Schüler*innen ein Zettel verteilt, der von Amnesty International Researcher*innen geprüft wurde. Darauf steht: „Schaut euch um. Ihr könnt sehen, dass die Ukraine Charkow, Mariupol und andere Städte zerstört hat. Wenn ihr nicht wollt, dass die Ukraine euch tötet, erzählt uns alles, was ihr seht und wisst.“

Indoktrination und Nötigung von Lehrpersonen haben Auswirkungen auf die Bildungsarbeit

Hanna* und Olena*, beide Lehrerinnen aus einer Gemeinde in der von März bis September 2022 besetzten Region Charkiw, erhielten Nachrichten von den Schulleiter*innen ihrer jeweiligen Schulen, die sie davon überzeugen wollten, zur Wiedereröffnung der Schulen im September zur Arbeit zurückzukehren und nach dem russischen Lehrplan zu unterrichten. Beide weigerten sich und tauchten unter.

Olena musste ihre Wohnung aufgeben und lebte bei Nachbar*innen. Hanna blieb heimlich in ihrem Haus, konnte sich aber deswegen nicht für die humanitäre Hilfe (Lebensmittelpakete) der russischen Besatzungsbehörden registrieren. In ihrem Interview mit Amnesty International sagte sie, dass es sehr schwierig war, acht Monate der Besatzung ohne Einkommen und Unterstützung zu überleben.

Familien aus den russisch besetzten Gebieten berichten von Schulen, die ohne ausreichendes oder qualifiziertes Lehrpersonal wiedereröffnet wurden, und von Kindern, die allein in den Klassenzimmern zurückgelassen und aufgefordert wurden, Lehrbücher zu lesen, was bedeutet, dass die Qualität des Unterrichts und die Disziplin gelitten haben.

Die einzige Möglichkeit, der Ukraine bei der Heilung zu helfen und die Gegenwart und Zukunft ukrainischer Kinder von Schmerz zu befreien, besteht darin, dass Russland den Krieg beendet, der nach internationalem Recht ein Akt der Aggression ist.

Anna Wright, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Amnesty International, über die Ergebnisse

„In der Zwischenzeit müssen die Besatzungsbehörden die Einschüchterung der lokalen Bevölkerung, die Nötigung von Lehrpersonen zu unangemessener Bildung und andere missbräuchliche Methoden unverzüglich einstellen. Während eines Krieges oder einer Besetzung sind alle Parteien an das internationale humanitäre Recht und die Menschenrechte gebunden. Das Recht der Kinder auf Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung ist eine dieser Verpflichtungen und muss in vollem Umfang respektiert werden“, so Wright weiter.

Hintergrund

Amnesty International arbeitet seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine daran, Kriegsverbrechen und andere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zu dokumentieren. Alle bisher veröffentlichten Ergebnisse von Amnesty International sind hier zu finden.

 

*Namen aus Sicherheitsgründen geändert

Russischer Einmarsch in die Ukraine

Amnesty International beobachtet die Lage der Zivilbevölkerung in der Ukraine genau und wird weiterhin Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das Völkerrecht aufdecken und dokumentieren. Hier findest du aktuelle Informationen und Updates zu unseren Untersuchungen zum Krieg in der Ukraine.