24-Stunden-Betreuer*innen in Österreich: „Wir wollen nur ein paar Rechte“
1. Juli 2021Zusammenfassung
- Neuer Bericht von Amnesty International zeigt: Rechtliche Rahmenbedingungen führen zur Ausbeutung von 24-Stunden-Betreuer*innen in Österreich
- Kurzzusammenfassung/Factsheet zum Bericht
- Fast alle der Betreuer*innen sind selbstständig; sehr häufig handelt es sich dabei um verschleierte Arbeitsverhältnisse ohne Arbeitsschutz und mit Bezahlung weit unter dem Mindestlohn
- COVID-19-Pandemie führte zu dramatischer Verschlechterung der Arbeitssituation und zum Teil zu unüberwindbaren bürokratischen Hürden beim Zugang zu Unterstützungsmaßnahmen
- Amnesty International fordert zuständige Ministerien zum Handeln auf und startet österreichweite Kampagne 24 Stunden unverzichtbar.
Amnesty International hat heute einen Bericht veröffentlicht, der die arbeitsrechtlich dramatische Situation von 24-Stunden-Betreuer*innen in Österreich aufzeigt. Mit zum Teil schockierend schlechter Bezahlung, übermäßig langen Arbeitszeiten, keinem gesicherten arbeitsrechtlichen Schutz oder Zugang zu sozialen Leistungen wie Krankenversicherung, arbeiten 24-Stunden-Betreuer*innen häufig in äußerst prekären Arbeitsverhältnissen. „Das rechtliche Rahmenwerk in Österreich lässt Ausbeutung von 24- Stunden-Betreuer*innen im großen Stil zu, und das, obwohl sie eine wichtige Säule des heimischen Pflegesystems darstellen“, kritisiert Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich, anlässlich der Präsentation des Berichts.
„Verschleierte Arbeitsverhältnisse“: Kein Arbeitnehmer*innen-Schutz
Das Hauptproblem, so Schlack, entsteht durch die fälschliche Einordnung der Betreuer*innen als Selbstständige. Zwar verfügen sie über einen Gewerbeschein, sind also rechtlich selbstständig tätig, sind aber in der Ausgestaltung ihrer Arbeitsbedingungen sowie im Ausverhandeln ihres Honorars von den Vermittlungsagenturen und/oder von den zu betreuenden Personen und deren Familien abhängig. Hier spricht die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation, von „verschleierten Arbeitsverhältnissen“: „Die Betreuer*innen befinden sich in einer ‘lose-lose’-Situation“, erklärt auch Teresa Hatzl, zuständige Advocacy & Research Officer bei Amnesty International.
Sie genießen nicht die Vorteile der Selbstständigkeit, aber auch nicht den Arbeitnehmer*innen-Schutz, wie etwa Mindestlohn, geregelten Arbeitszeiten und Zugang zu Krankengeld. In der Praxis heißt das etwa, dass 24-Stunden-Betreuer*innen weit unter dem Mindestlohn verdienen, Ruhezeiten oftmals nur auf dem Papier existieren und ihnen ihr Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen – das im UN-Sozialpakt verankert ist – verwehrt wird.
Teresa Hatzl, Advocacy & Research Officer bei Amnesty International
Betreuer*innen verdienen oft weit unter dem Mindestlohn
Aktuell gibt es mehr als 60.000 24-Stunden-Betreuer*innen mit Gewerbeberechtigung in Österreich, davon sind 92 Prozent Frauen und 98 Prozent Migrant*innen, hauptsächlich aus Ost- und Mitteleuropa, vor allem aus Rumänien und der Slowakei. Doch die Rolle der 24- Stunden-Betreuer*innen wird weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich oder politisch wertgeschätzt – geschweige denn angemessen bezahlt. Häufig liegt ihre Bezahlung weit unter dem Mindestlohn: Slowakische Betreuer*innen in Österreich erhalten etwa im Durchschnitt 10.080 € pro Jahr (Werte aus dem Jahr 2016), während der Mindestlohn für angestellte Betreuer*innen in Österreich bei 17.484 € jährlich liegt.
Strukturelles Missverhältnis in Österreich
Die prekäre Situation von vielen Betreuer*innen und die viel zu niedrige Bezahlung ergibt sich auch aus einem strukturellen Problem in Österreich: Der so genannte Gender Pay Gap ist hierzulande mit über 19 Prozent einer der höchsten in Europa, sprich Frauen – und die meisten Betreuer*innen sind Frauen – verdienen hierzulande schon grundsätzlich weniger als Männer. Dazu kommt, dass laut ILO Arbeitsmigrant*innen um 25 Prozent weniger Lohn als Inländer*innen verdienen. Migrantinnen erhalten sogar 26,8 Prozent weniger Lohn als österreichische Staatsbürgerinnen. Arbeitsmigrantinnen sind also hierzulande doppelt gefährdet für prekäre Arbeitsbedingungen – aufgrund ihres Geschlechts und aufgrund ihrer nicht-österreichischen Staatsbürgerschaft. Das heißt nicht nur geringere Entlohnung, wenig arbeitsrechtlicher Schutz und weniger soziale Sicherheit, sondern auch häufige Fälle von Diskriminierung und zum Teil sexueller Belästigung, wie der Amnesty-Bericht zeigt.
Europäisches Problem
„Die Situation von 24-Stunden-Betreuer*innen in Österreich zeigt auch ein europäisches Problem auf“, verweist Schlack auf die europäische Gesamtsituation. „Das ist ein krasses Beispiel dafür, dass prekäre Arbeit unverhältnismäßig starke Auswirkungen auf weibliche Arbeitsmigrantinnen hat. In ganz Europa arbeiten Frauen, junge Menschen, Migrant*innen und Angehörige ethnischer, religiöser und anderer Minderheiten häufiger als andere in Teilzeit, mit kurzfristigen und unsicheren Verträgen, ohne angemessenen Zugang zu Krankengeld, Elternschaftsurlaub, bezahltem Urlaub und anderen Leistungen."
Brennglas COVID-19
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie, die Ausgangspunkt der Amnesty-Recherchen war, zeigte sich eine dramatische Verschlechterung der Arbeitssituation der Betreuer*innen. Aufgrund der Reisebeschränkungen konnten viele zu den üblichen Turnussen nicht nach Hause fahren und waren gezwungen, mehrere Wochen durchzuarbeiten. Umgekehrt waren aufgrund der COVID-19-Maßnahmen auch die Möglichkeiten von Familienangehörigen und Freund*innen der zu betreuenden Personen eingeschränkt, sodass die Betreuer*innen oft wochenlang und in 24-Stunden-Rufbereitschaft arbeiten mussten. Auch beim Zugang zu den COVID-19- Unterstützungsmaßnahmen hatten die Betreuer*innen mit teils unüberwindbaren bürokratischen Hürden zu kämpfen. So war es ihnen in einigen Bundesländern nicht möglich, den sogenannten “Bleib-Da-Bonus" selbst zu beantragen, sondern waren dabei von den Familien bzw. den Vermittlungsagenturen abhängig und mussten darauf vertrauen, dass diese ihnen das Geld auszahlten.
Interviews mit Betreuer*innen: „Ich habe 3,5 Monate durchgehend gearbeitet“
Im Zuge der Erstellung des umfassenden Berichts, für den Amnesty neben einer tiefgehenden Literaturrecherche auch zahlreiche Gespräche mit Expert*innen, Vertreter*innen von NGOs und Interessensvertretungen führte sowie Informationen aus den zuständigen Ministerien einholte, sprach Amnesty auch mit einer Reihe von Betreuerinnen. Eszter aus Rumänien etwa erzählte, dass sie während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 3,5 Monate am Stück gearbeitet hat – bis sie zusammenbrach. „Als Selbstständige haben wir nur Pflichten, keine Rechte. Kein Urlaubsgeld, kein Arbeitslosengeld“ – und keine Stelle, an die sich die Betreuer*innen wenden können, wird Dora, ebenfalls aus Rumänien, zitiert.
Start der Kampagne und Forderungen an die Politik
Der heute veröffentlichte Bericht ist der Startschuss der Kampagne „24 STUNDEN UNVERZICHTBAR“, bei der Amnesty International Österreich Menschen aufruft, sich solidarisch mit den Betreuer*innen zu zeigen. Gleichzeitig ruft die Organisation die Entscheidungsträger*innen auf, in einen Dialog zu treten, um mit Initiativen wie der IG24 und CuraFAIR Lösungen zu entwickeln. Von den zuständigen Ministerien fordert die Menschenrechtsorganisation ein rechtliches Rahmenwerk, das sicherstellt, dass die Rechte aller Betreuer*innen, egal ob selbstständig oder unselbstständig tätig, geschützt sind.
Die Betreuer*innen müssen eine faire Bezahlung bekommen und vor übermäßig langen Arbeitszeiten geschützt werden, das ist ein zentrales Anliegen
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Weiters müssen Kontroll- und Beschwerdemöglichkeiten ausgebaut und ausreichend Unterstützungs- und Beratungsangebote geschaffen werden.