Afghanistan: Einsatz für Menschenrechte so gefährlich wie nie
28. August 2019ZUSAMMENFASSUNG
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2018 starben in Afghanistan so viele Zivilist*innen wie nie zuvor, die Gewaltrate war im vergangenen Monat so hoch wie seit 2 Jahren nicht mehr
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Neuer Amnesty-Kurzbericht dokumentiert Schikanen und Angriffe gegen Menschen, die sich unter schwierigsten Bedingungen gegen Unrecht und für die Rechte anderer einsetzen
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Amnesty fordert die afghanische Regierung und die internationale Gemeinschaft auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen: Sie müssen Menschenrechtsverteidiger*innen schützen und unterstützen
In Afghanistan geraten Menschen, die sich gegen Unrecht und für die Rechte anderer einsetzen, immer stärker unter Druck. Sowohl Behörden als auch bewaffnete Gruppen gehen mit Einschüchterungen, Schikanen, Drohungen und Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger*innen vor, dokumentiert Amnesty in einem neuen Kurzbericht Defenceless Defenders: Attacks on Afghanistan’s Human Rights Community.
Im Jahr 2018 starben im Konflikt in Afghanistan laut UNO-Angaben über 11.000 Zivilist*innen. Das ist die höchste je erhobene Zahl. Die Gewaltrate im vergangenen Monat war so hoch wie seit zwei Jahren nicht mehr. „Nie war es so gefährlich, sich in Afghanistan für die Menschenrechte einzusetzen. Menschenrechtsverteidiger*innen müssen sich in einem äußerst gefährlichen Umfeld zurechtfinden. Sie werden außerdem von gleich zwei Seiten bedroht: von den Behörden und von verschiedenen bewaffneten Gruppen“, sagt Omar Waraich, stellvertretender Regionaldirektor für Südasien bei Amnesty International.
Das Schicksal von Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen ist bisher großteils ignoriert worden – sowohl von der afghanischen Regierung als auch von der internationalen Gemeinschaft. Recherchen von Amnesty zeigen, dass die afghanische Regierung Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen nicht untersucht, Aktivist*innen Lügen vorwirft und Betroffenen sogar empfohlen hat, sich zu ihrer Verteidigung zu bewaffnen. „Die afghanische Regierung ist verpflichtet, Menschenrechtsverteidiger*innen zu respektieren, zu schützen und zu unterstützen. Drohungen und Angriffe müssen untersucht und mutmaßliche Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden“, fordert Omar Waraich.
Der Mut afghanischer Menschenrechtsverteidiger*innen wird international seit Langem gelobt. Dennoch mangelt es an wirksamer Unterstützung.
Omar Waraich, stellvertretender Regionaldirektor für Südasien bei Amnesty International
„Es mangelt außerdem an konkreter Anerkennung ihrer wichtigen Arbeit für die Menschenrechte" sagt Omar Waraich und sagt weiter: "Die internationale Gemeinschaft muss jetzt aktiv werden und allen, die in Afghanistan die Menschenrechte verteidigen, dringend Unterstützung zusagen.“
Gewalt, Drohungen und Tötungen
Der Amnesty-Bericht dokumentiert, wie Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen eingeschüchtert, drangsaliert, bedroht, verletzt und sogar getötet werden – ohne dass diese Vorfälle von den afghanischen Behörden untersucht oder strafrechtlich verfolgt werden.
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Im Oktober 2015 wurden zwei Angestellte der nationalen Menschenrechtsorganisation AIHRC getötet und zwei weitere verletzt, als in der Provinz Nangarhar im Osten des Landes eine Bombe am Straßenrand explodierte. „Leider hat die Regierung bis heute noch niemanden festgenommen“, sagte ein AIHRC-Vertreter im Gespräch mit Amnesty International. „Uns sind keine Fortschritte [in der Untersuchung] mitgeteilt worden.“
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Im September 2016 wurde Khalil Parsa, ein Menschenrechtsverteidiger aus der Provinz Herat, auf dem Nachhauseweg sieben Mal angeschossen. Vor diesem Angriff war er bereits mehrmals bedroht und aufgefordert worden, seine Menschenrechtsarbeit zu beenden. Als er die Drohungen beim afghanischen Inlandsgeheimdienst anzeigte, sagte man ihm lediglich, er solle die Sicherheitsbehörden informieren, wenn sich das nächste Mal ein solcher Vorfall ereignete. Als er nach dem Anschlag vorübergehend das Land verließ, weil er sich dort nicht mehr sicher fühlte, informierte man ihn, dass die Behörden den Angriff auf ihn nicht untersuchen würden.
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Im Oktober 2018 befand sich Mohammed (Name zu seiner Sicherheit geändert) in Kabul auf dem Heimweg, als er plötzlich angegriffen und angeschossen wurde. Er zog sich dabei Verletzungen an der Leber zu. Obwohl er bei den Behörden um Hilfe bat, wurden ihm kein Schutz gewährt. Stattdessen empfahl man ihm, ein Gewehr zu kaufen und „sich selbst zu schützen“. Weil er um sein Leben fürchtete, musste er schließlich umziehen.
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Hasiba (Name zu ihrer Sicherheit geändert) ist Anwältin und verteidigt Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben, sich scheiden lassen möchten oder denen Strafanzeige droht. Ihr werden seit 2017 regelmäßig gewaltsame Angriffe angedroht, darunter auch Säureanschläge. Die Polizei nahm ihre Anzeige zwar auf, unternahm darüber hinaus jedoch nichts. In der Folge musste Hasiba ihre Anwaltskanzlei sieben Monate lang schließen.
„Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen in Afghanistan haben trotz ihrer äußerst schwierigen Lage großen Mut bewiesen. Obwohl sie ständig um ihr Leben und ihre Sicherheit fürchten müssen, kämpfen sie weiterhin gegen das Unrecht und setzen sich für die Rechte anderer ein. Daher ist es nun dringend an der Zeit, dass die afghanischen Behörden und die internationale Gemeinschaft sich für die Rechte dieser mutigen Menschen stark machen“, fordert Omar Waraich.
Bedroht durch die Regierung
Im Dezember 2016 versicherte Präsident Aschraf Ghani, die Rechte von Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen schützen zu wollen. „Der Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen ist die alleinige Verantwortung meiner Regierung und ihrer Legislative und Judikative“, sagte Präsident Ghani auf einer von der Menschenrechtsorganisation AIHRC ausgerichteten Konferenz.
Doch statt dieses Versprechen zu halten, schikaniert und bedroht die Regierung nun selbst Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen. Im Juni 2016 wandten die Behörden unverhältnismäßige Gewalt an, um eine Veranstaltung auf dem Zanbaq-Platz in Kabul aufzulösen, bei der der zivilen Opfer im bewaffneten Konflikt gedacht wurde.
Einer der Organisatoren einer anderen Protestveranstaltung sagte Amnesty International, das Präsidentenbüro hätte ihn kontaktiert und gemahnt, die Zelte der Protestierenden abzubauen. Denn ansonsten bestünde die Gefahr, dass sie von bewaffneten Gruppen „angegriffen“ werden könnten. Eine Aussage, die er als Drohung interpretierte.
Im Mai 2017 untersuchten die Vereinten Nationen die Folterbilanz Afghanistans. Im Vorfeld einer Untersuchung durch den UN-Ausschuss gegen Folter zwang man eine zivilgesellschaftliche Organisation, die Namen hochrangiger Regierungsangestellter aus einem Schattenbericht zu entfernen, bevor er eingereicht wurde.
Hintergrund
Amnesty International setzt sich mit der Kampagne „Es beginnt hier“ weltweit für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen ein. Mehr unter www.amnesty.at/esbeginnthier