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Fehlende Sozialleistungen, Missstände in der Asylpolitik, systematische Korruption – die Liste der Menschenrechtsverfehlungen in Österreich ist lang. Die meisten dieser Probleme bestehen schon seit Jahren, doch hat die Politik bisher versäumt, etwas daran zu ändern. Amnesty International fordert ein dringend notwendiges Umdenken.
Die Politik muss endlich erkennen, dass wir nicht die Insel der Seligen sind.
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Die Pandemie hat eindrücklich aufgezeigt, wie wichtig das Menschenrecht auf soziale Sicherheit in Österreich ist. Es braucht Maßnahmen, um Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Österreich wirksam zu beenden. „Soziale Sicherheit oder das Recht auf Wohnen müssen nun endlich in den Fokus der Politik rücken. Diese zu garantieren ist die Verpflichtung eines jeden Staats”, so Schlack.
Ebenso sind dringend Reformen notwendig, um die Rechte der sogenannten „24-Stunden-Betreuer*innen“ in Österreich besser zu schützen. „Der neue Gesundheits- und Sozialminister Johannes Rauch hat das Thema Pflege und Armutsbekämpfung auf seine Agenda geschrieben – wir hoffen, dass dies nicht nur ein Antrittsversprechen bleibt“, mahnt Schlack in Richtung Politik.
Der Jahresbericht 2021/22 von Amnesty International, erschienen am 29. März, bietet eine umfassende Analyse der weltweiten Menschenrechtssituation und -trends des vergangenen Jahres. Der Bericht umfasst 154 Länder, darunter auch Österreich, wo Amnesty International mehrere schwere Menschenrechtsverletzungen dokumentiert hat.
Neben Kritik an unzureichenden Sozialleistungen sowie an fehlenden Maßnahmen zur Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit enthält das Österreich-Kapitel des Jahresberichts auch Abschnitte über unverhältnismäßige Beschränkungen friedlicher Versammlungen, mangelhafte Ermittlungen gegen Polizeigewalt, ungerechtfertigte Abschiebungen und Pushbacks von Asylsuchenden, mangelnden Schutz von Whistleblower*innen sowie Probleme mit Diskriminierung. Diese Verfehlungen wurden im vergangenen Jahr auch laufend von Amnesty International aufgezeigt und angeprangert.
Die Regierung hat menschenrechtlich wichtige Reformen angekündigt, die bisher jedoch nicht umgesetzt wurden. Wir warten nach wie vor auf konkrete Gesetzesvorschläge für die Schaffung eines Informationsfreiheitsgesetz, die Abschaffung des Amtsgeheimnisses, eine grundlegende Reform des Maßnahmenvollzuges sowie die Umsetzung der EU-Whistleblower*innen-Richtlinie“, so Schlack.
Österreich hat in der Vergangenheit zu oft die Chance verpasst, etwas gegen Missstände im Bereich der Menschenrechte zu unternehmen. Es ist höchste Zeit, dass Österreich seine Menschenrechtsprobleme angeht!
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Juli 2021 setzten sechs Bundesländer das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz um. Die darin festgelegten Obergrenzen der Sozialleistungen für Erwachsene waren nicht ausreichend, um ein Mindestmaß an finanzieller Unterstützung, an Sachleistungen und damit ein menschenwürdiges Leben sicherzustellen.
Die im April 2020 behördlich beschlossene Stundung der Mietrückstände und das Verbot von Delogierungen zum Schutz von Mieter*innen, die aufgrund der Lockdowns während der Coronapandemie keine Miete zahlen konnten, liefen beide im März 2021 aus. Eine im Sommer 2021 beschlossenes Maßnahmenpaket zur Prävention von Coronapandemie bedingten Delogierungen wurden erst im März 2022 effektiv umgesetzt – die Wirksamkeit bleibt daher abzuwarten.
Speziell Migrant*innen, die ältere Menschen zu Hause betreuen, werden schlecht bezahlt, müssen übermäßig lange ohne angemessene Pausen arbeiten und haben aufgrund von Mehrfachdiskriminierung Schwierigkeiten beim Zugang zu Sozialleistungen.
Amnesty International Österreich hat im letzten Jahr einen Bericht über die Missstände in der 24-Stunden-Betreuung veröffentlich. Mehr dazu hier.
Auch 2021 wurden Vorwürfe wegen unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch Polizeibeamt*innen nicht wirksam untersucht. Die von der Regierung im Januar 2020 angekündigte unabhängige Ermittlungs- und Beschwerdestelle zur Untersuchung von Misshandlungsvorwürfen war bis Ende 2021 noch nicht eingerichtet worden. Straflosigkeit und mangelnde Rechenschaftspflicht wurden zudem dadurch verschärft, dass Polizeibeamt*innen nach wie vor keine individuelle Kennung trugen.
Amnesty International Österreich veröffentlichte erst vor kurzem einen Bericht über das Klima der Straflosigkeit für Polizeigewalt in Österreich im Zusammenhang mit den Vorfällen bei der Mayday-Demo am 1. Mai 2021. Mehr dazu hier.
Zivilgesellschaftliche Organisationen äußerten sich besorgt über den Rückgang der Pressefreiheit. Die strafrechtliche Verfolgung von Julian H., der eine Schlüsselrolle bei der Erstellung des sogenannten „Ibiza-Videos“ gespielt hatte, wurde von 15 zivilgesellschaftlichen Organisationen als unverhältnismäßig bezeichnet. Sein Prozess begann im September 2021 und dauert bis heute noch an.
Im Februar 2021 legte die Regierung einen Gesetzentwurf zur Informationsfreiheit vor, der Maßnahmen zur Verbesserung des Zugangs zu Informationen vorsah, u. a. durch die Abschaffung des Amtsgeheimnisses. Bedenken bestanden jedoch hinsichtlich der Wirksamkeit des Verfahrens in Fällen, in denen die Behörden den Informationszugang verweigern. Zudem gab es nach wie vor keinen unabhängigen Informationsbeauftragten und keinen wirksamen Mechanismus zum Schutz von Whistleblower*innen. Seit der Übermittlung des Gesetzentwurfs an das zuständige Ministerium im April 2021 wurde dem Parlament kein überarbeiteter Vorschlag vorgelegt. Auch nach der Reform des Verfassungsschutzes, die am 1. Dezember 2021 in Kraft trat, war der Schutz von Whistleblower*innen nicht ausreichend gewährleistet, und es gab keinen unabhängigen Überwachungsmechanismus.
Im vergangenen Jahr gab es unverhältnismäßige Einschränkungen für friedliche Versammlungen. Basierend auf Rechtsgrundlagen zur Bekämpfung der Coronapandemie wurden einige Versammlungen verboten. In manchen Fällen wurde gerichtlich nachträglich entschieden, dass die Verbote eine unverhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf friedliche Versammlung darstellten.
Ungerechtfertigte Abschiebungen und Pushbacks von Asylsuchenden
Zwischen Januar und August 2021 wurden 64 afghanische Staatsangehörige nach Afghanistan abgeschoben, obwohl ihnen bei ihrer Rückkehr schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Im August lehnte die österreichische Regierung die Evakuierung von Afghan*innen ab, die vor den Taliban geflohen waren. Auch die Umverteilung von Asylsuchenden von den griechischen Inseln lehnte die Regierung weiterhin ab.
Im Juli 2021 entschied das Landesverwaltungsgericht Steiermark, dass eine Gruppe von sieben Asylsuchenden rechtswidrig nach Slowenien zurückgeschoben worden war. In einem anderen Fall entschied ein Gericht im Februar 2022, dass die Zurückweisung eines Asylsuchenden durch nationale Polizeikräfte an der slowenischen Grenze unrechtmäßig war. Laut Gericht zeige dies, dass rechtswidrige Pushbacks in Österreich teilweise methodisch Anwendung fanden.
Trotz massiver menschenrechtlicher Kritik wurde im Juli 2021 das menschenrechtlich höchst problematische „Anti-Terror Paket“ verabschiedet. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Expert*innen der Vereinten Nationen äußerten Bedenken, dass der neue Paragraf über „religiös motivierte extremistische Verbindungen“ zu einer Stigmatisierung von Muslim*innen führen würde.
Im August 2020 wurde der Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie zur Strafverfolgung eingeführt. Bedenken wurden laut hinsichtlich der potenziell diskriminierenden Auswirkungen auf ethnische Minderheiten sowie auf die Rechte auf Privatsphäre, freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung. Auch wurde 2021 die Polizei häufig beschuldigt, diskriminierende Personenkontrollen (Racial Profiling) durchzuführen.