Amnesty International verurteilt Invasion der Ukraine als Akt der Aggression
2. März 2022Russlands Einmarsch in die Ukraine ist ein unmissverständlicher Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen und ein Akt der Aggression, der ein Verbrechen nach dem Völkerrecht darstellt. Amnesty International fordert deshalb, dass alle an diesem Verbrechen Beteiligten für diese Verstöße zur Rechenschaft gezogen werden, sowohl persönlich und individuell als auch kollektiv. Dasselbe gilt für die vielen einzelnen Verbrechen, die die Invasion der Ukraine bisher gekennzeichnet haben.
„Russlands Einmarsch in die Ukraine ist schwerwiegend und durch ein einziges Merkmal definiert: Aggression. Russland dringt in das Herz der Ukraine vor und versucht, die rechtmäßig gewählte Regierung zu stürzen, mit realen und potenziell massiven Auswirkungen auf das Leben, die Sicherheit und das Wohlergehen der Zivilbevölkerung. Die Handlungen der russischen Führung können mit keinem der von Russland vorgebrachten Gründe auch nur annähernd gerechtfertigt werden. Dennoch wird all dies von einem ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrates begangen“, kritisiert Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International, heute scharf in einer Aussendung.
UN-Staaten müssen UN-Charta verteidigen
Angesichts der Schwere der Ukraine-Krise ruft Amnesty International die UN-Mitgliedsstaaten auf, die UN-Charta zu wahren und zu verteidigen, die die Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates verbietet. Die einzigen Ausnahmen von diesen Bestimmungen wären die Selbstverteidigung und die vom UN-Sicherheitsrat genehmigte Anwendung von Gewalt – beides trifft auf diese Krise nicht zu. Nach dem Völkerrecht sind alle Staaten verpflichtet, internationale Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln und in einer Weise beizulegen, die den internationalen Frieden, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet, so Amnesty.
Amnesty International forderte die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen weiters auf, gemeinsam das von Russland begangene Verbrechen der Aggression – gemäß dem Römischen Statut des IStGH – zu verurteilen, den Bürger*innen der Ukraine, einschließlich derer, die vor dem Konflikt fliehen, Hilfe und Unterstützung zu gewähren und dafür zu sorgen, dass die Folgen des russischen Überfalls die Welt nicht weiter in einen Abgrund von Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Unsicherheit stürzen.
„Russland verstößt eindeutig gegen seine internationalen Verpflichtungen. Das Handeln der russischen Regierung richtet sich ganz klar gegen die Regeln und Prinzipien, auf denen die Vereinten Nationen gegründet wurden. Alle Mitglieder der Vereinten Nationen sollten dieses Verhalten unmissverständlich verurteilen.“
Russlands eklatante Missachtung seiner internationalen Verpflichtungen darf andere nicht dazu ermutigen, es ihm gleichzutun, und auch die Fähigkeit der UN, ein solches Verhalten in die Schranken zu weisen, darf nicht untergraben werden.
Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International
Massive Menschenrechtskrise
„In weniger als einer Woche hat der Einmarsch Russlands in die Ukraine eine massive Krise für die Menschenrechte und die humanitäre Lage ausgelöst, die zu Massenvertreibungen geführt hat. Sie könnte sich zur schlimmsten Katastrophe der jüngeren europäischen Geschichte entwickeln. Russland verletzt nicht nur die Souveränität eines Nachbarstaates und dessen Bevölkerung, sondern stellt auch die globale Sicherheitsarchitektur in Frage und nutzt deren Schwächen aus, einschließlich eines nicht funktionierenden UN-Sicherheitsrats. Diese Aggression und die Verstöße gegen das Völkerrecht haben langfristige Folgen für uns alle – das dürfen wir nicht zulassen“, sagte Agnès Callamard.
Die begrüßenswerte Ankündigung des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), dass sein Büro eine Untersuchung in der Ukraine einleiten will, zeigt allen, die in der Ukraine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben – einschließlich derjenigen in hohen Positionen und der Hauptverantwortlichen –, dass sie individuell zur Rechenschaft gezogen werden.
Hintergrund
Seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar dokumentiert Amnesty die Eskalation der Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte. Dazu gehören auch die zivilen Todesopfer infolge der wahllosen Angriffe auf zivile Gebiete und Infrastruktur. Die Angriffe auf geschützte Objekte wie Krankenhäuser und Schulen, der Einsatz von so genannten unterschiedslos wirkenden Waffen wie ballistischen Raketen und der Einsatz verbotener Waffen wie Streubomben können als Kriegsverbrechen eingestuft werden.
Schwere Verstöße gegen die Regeln eines Konflikts stellen Kriegsverbrechen und sind zum Teil im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs als solche kodifiziert. Der IStGH wäre für Kriegsverbrechen zuständig, die in der Ukraine begangen werden. Die Ukraine hat 2015 eine Erklärung abgegeben, in der sie die Zuständigkeit des IStGH für Verbrechen anerkennt, die seit dem 20. Februar 2014 in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurden. Russland hat das Römische Statut im Jahr 2000 unterzeichnet, seine Unterschrift aber 2016 zurückgezogen.
Die Militärintervention scheint der Definition von Aggression gemäß dem Römischen Statut des IStGH zu entsprechen. Art. 8bis (1) des Römischen Statuts definiert ein „Verbrechen der Aggression“ als „die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt.“ Obwohl der Gerichtshof in dieser Situation, sofern es nicht zu einer unwahrscheinlichen Verweisung durch den Sicherheitsrat kommt, nicht für das Verbrechen der Aggression zuständig sein wird, verfügen einige Staaten, darunter auch die Ukraine, über innerstaatliche Gesetze, die eine Verfolgung der für dieses Verbrechen Verantwortlichen ermöglichen würden.
Die Invasion der Ukraine hat zu Massenvertreibungen und zur Zerstörung von zivilen Wohnungen geführt. Bereits bei den Kämpfen in Donezk und Luhansk, insbesondere in den Jahren 2014-2015, kam es zu außergerichtlichen Hinrichtungen, Folter und anderen Misshandlungen, gewaltsamem Verschwindenlassen und rechtswidrigem Freiheitsentzug.