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Anlässlich der Veröffentlichung eines aktuellen Gutachtens über die Vorgänge bei der Mayday-Demo am 1. Mai vergangenen Jahres, bei der es zu massiven Vorwürfen von Polizeigewalt gegen Demonstrierende gekommen ist, erneuert Amnesty International Österreich die langjährige Forderung nach Errichtung einer unabhängigen Ermittlungs- und Beschwerdestelle zur Untersuchung von Polizeigewalt – und erinnert die aktuelle Bundesregierung an ihr eigenes Vorhaben, eine solche einrichten zu wollen. Laut Aussage des damaligen Innenministers und jetzigen Bundeskanzlers Karl Nehammer hätte bis Herbst 2020 ein Konzept vorliegen sollen. Bislang ist in der Öffentlichkeit davon noch nichts bekannt.
Das Gutachten, das Menschenrechtsexperte Philipp Sonderegger im Auftrag von Amnesty International verfasst hat, zeigt massives Fehlverhalten der Polizei während des Einsatzes, aber auch eine fehlende Aufarbeitung der Geschehnisse und Vorwürfe durch die Behörden – ein Problem, das in Österreich regelmäßig vorkommt und laut Amnesty International System hat.
Die wirksame Untersuchung von Misshandlungsvorwürfen gegen die Polizei und der Schutz der Versammlungsfreiheit in Österreich sind für Amnesty International zentrale Anliegen
Teresa Exenberger, Juristin und Advocacy and Research Officer bei Amnesty International
„Aus diesem Grund haben wir die Vorgänge rund um den Polizeieinsatz bei der Mayday-Demonstration am 1. Mai 2021 evaluieren lassen.“ Dabei ging es weniger um eine detaillierte Aufarbeitung der einzelnen Geschehnisse als eher darum festzustellen, ob und wie die Polizei mit den Misshandlungsvorwürfen umgegangen ist. „Beteiligte und Beobachter*innen hatten der Exekutive massive Polizeigewalt und Fehlverhalten vorgeworfen; dem gegenüber standen die öffentlichen Äußerungen der Polizeiführung, dass es zu keinerlei Fehlverhalten auf ihrer Seite gekommen sei“, so die Expertin.
Der über 50 Seiten starke Bericht zeigt das Gegenteil: „Es gibt klare Hinweise auf die Misshandlung von Teilnehmer*innen durch die Polizei im Zuge der Mayday-Demo. In mehreren Fällen besteht der konkrete Verdacht auf unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“, erklärt Autor Sonderegger. Er ist Mitglied des Menschenrechtsbeirats der Volksanwaltschaft und beobachtet regelmäßig Polizeieinsätze im In- und Ausland. Der Bericht zeigt auf, dass es zusätzlich auch zu Eingriffen in das Recht auf friedliche Versammlung und der Pressefreiheit kam, denen es offenkundig an hinreichender Rechtfertigung fehlte. Vor allem aber kommt die Untersuchung zu dem Schluss, dass die Einsatzleitung der Polizei Mitverantwortung an der Eskalation der Versammlung trägt und dass die Misshandlungsvorwürfe nicht – im Sinne der menschenrechtlichen Verpflichtungen und Standards – ausreichend unabhängig, gründlich, rasch, kompetent und transparent untersucht wurden. Ausgehend von der detaillierten Analyse wird auch stark bezweifelt, dass die Polizei allen ihnen bekannten Misshandlungsvorwürfen nachgegangen ist. Beides kommt einem Verstoß gegen das Misshandlungsverbot gleich. Schließlich zeigt sich, dass polizeiliches Fehlverhalten bei der „Evaluierung“ des Einsatzes übersehen wurde und die Polizei ihre Verpflichtung vernachlässigt, Vorkehrungen für eingriffsarme Einsätze bei künftigen Versammlungen abzuleiten.
„Der Bericht über die Mayday-Demo bestätigt leider, was wir seit vielen Jahren beobachten: Polizeigewalt in Österreich ist ein massives Problem. Aber fast noch mehr die Straflosigkeit, die diesem Fehlverhalten regelmäßig folgt“, so die Juristin. Das bestätigt auch eine umfangreiche wissenschaftliche Studie von ALES (Austrian Center for Law Enforcement Sciences), laut der Misshandlungsvorwürfe gegen Polizeibeamt*innen derzeit in Österreich fast nie zu einer Anklage führen und die Verfahren meist eingestellt werden.
Wenn es überhaupt zu Ermittlungen kommt, verlaufen diese meistens im Sand.
Teresa Exenberger, Juristin und Advocacy and Research Officer bei Amnesty International
Zudem kommt, dass sich oftmals auch die disziplinarrechtlichen Verfahren an den Strafverfahren orientieren: „Daher folgen nach der Einstellung des Strafverfahrens gegen Beamt*innen auch keine disziplinarrechtlichen Konsequenzen.“
Auch das aktuelle Gutachten zeigt „ein Bild mangelnder Transparenz und einer schwachen Fehlerkultur bei der Aufarbeitung der Ereignisse durch Polizei und Justiz“, stellt Philipp Sonderegger klar. Für den Bericht wurden zwölf Personen detailliert befragt, zudem wurden behördliche Schriftstücke und Videos analysiert und Anfragen an die Polizei ausgewertet. „Letzteres war am schwierigsten, da ich keine oder sehr oberflächliche Antworten erhalten habe und das um Monate verspätet“, kritisiert Sonderegger die mangelnde Transparenz und „den Unwillen, den Einsatz ernsthaft auf Fehler und Verbesserungsmöglichkeiten hin zu untersuchen“. Der Bericht analysiert in zwei Teilen sowohl die Verletzung des Misshandlungsverbot und deren fehlende Aufarbeitung durch die Behörden als auch die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und das Versagen der Polizei, diese ausreichend zu schützen und zu gewährleisten. Im Gegenteil kam es zu unverhältnismäßiger Ausübung von Gewalt durch die Behörden gegenüber den Demonstrierenden.
Im Detail gibt es im Zusammenhang mit der Mayday-Demo konkrete und belastbare Hinweise auf zumindest acht Fälle von „unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung“, wobei laut Philipp Sonderegger von der Polizei nicht alle Hinweise aufgegriffen und nicht alle Fälle wirksam untersucht worden seien.
Nicht nur überschießende Polizeigewalt, sondern auch unwirksame Untersuchungen stellen eine klare Menschenrechtsverletzung dar.
Philipp Sonderegger, Menschenrechtsexperte
Das ist nicht nur ein Problem für die Betroffenen, sondern auch eine Verletzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen Österreichs. Mehrfach wurde Österreich in dieser Hinsicht auch von diversen internationalen Institutionen – etwa den Vereinten Nationen oder dem Europarat – gemahnt bzw. aufgefordert, eine unabhängige Stelle zur Untersuchung von Misshandlungsvorwürfen gegen Polizeibeamt*innen einzurichten.
Derzeit sei es laut Exenberger so, dass die Polizei gegen sich selbst und damit Polizist*innen gegen ihre Kolleg*innen ermitteln. „Genau daher braucht es so dringend die von uns bereits lange geforderte Ermittlungs- und Beschwerdestelle zur Untersuchung von Polizeigewalt“, betont sie. Dabei sei aus menschenrechtlicher Sicht vor allem die Unabhängigkeit der Ermittlungsstelle zentral.
Um es klar zu sagen: Die ermittelnde Stelle darf in keiner hierarchischen oder institutionellen Verbindung zur Polizei stehen. In anderen Worten heißt das, dass eine solche Stelle unbedingt außerhalb der Weisungsbefugnis des Bundesministers für Inneres stehen muss.
Teresa Exenberger, Juristin und Advocacy and Research Officer bei Amnesty International
Laut Amnesty International sei es außerdem notwendig, dass die Untersuchungsstelle multiprofessionell zusammengesetzt ist, also neben Personen mit Polizeihintergrund beispielsweise auch mit Mediziner*innen, Psycholog*innen und Menschenrechtsexpert*innen besetzt ist, um umfassende und gründliche Untersuchungen sicher zu stellen. Zudem dient es der Garantie der Unabhängigkeit, wenn neben Personen mit Polizeihintergrund, bei denen Interessenskonflikte vorliegen oder vermutet werden könnten, auch zivile Expert*innen eingebunden werden.
„Zahlreiche Beispiele zeigen: Polizeigewalt und weitere Menschenrechtsverletzungen können nur dann verhindert werden, wenn diese wirksam untersucht und verfolgt werden. Zudem können umfassende Ermittlungen auch das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Polizei stärken.“ Denn derzeit, so die Expertin, fehlt es genau an diesem Vertrauen der Bevölkerung – zu Recht, wie Teresa Exenberger meint: „Weder können Betroffene davon ausgehen, dass die Vorwürfe wirksam untersucht noch, dass die Täter*innen – also Polizist*innen – zur Rechenschaft gezogen werden. Vielmehr müssen die Betroffenen im schlimmsten Fall sogar mit einer Gegenanzeige rechnen.“ Laut der bereits genannten ALES Studie wurden in zehn Prozent der untersuchten Fälle von Seiten der Behörde mit einer Gegenanzeige mit dem Vorwurf der Verleumdung reagiert. „Das geht so weit, dass wir Betroffenen, die sich an uns wenden und keine guten Beweise in Form von Videos oder ähnlichem vorlegen können, nicht einfach so raten können, eine Anzeige zu erstatten.“
Dass es wirksame Aufklärung im Zusammenhang mit Polizeigewalt braucht weiß auch die aktuelle Bundesregierung, die sich in ihrem Regierungsprogramm zur „Sicherstellung einer konsequenten Aufklärung bei Misshandlungsvorwürfen gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte“ bekannt und die Errichtung einer solchen Ermittlungsstelle geplant hat. „Auf die Einlösung dieses Versprechens warten wir noch“, kritisieren die Menschenrechtsexperten Teresa Exenberger und Philipp Sonderegger unisono. Bis zum Herbst 2020 sollte ein Konzept vorliegen, hieß es ursprünglich. Amnesty International oder auch die Volksanwaltschaft hätten an einer Reform beteiligt werden sollen. Doch bis dato sind weder konkrete Pläne für die Umsetzung von Seiten der Regierung präsentiert, noch ist die Zivilgesellschaft in die Konzeption dieser Stelle eingebunden worden. Amnesty fordert daher eine rasche Umsetzung des geplanten Projektes sowie einen verbindlichen Zeitplan für die Reform. „Sollte diese Regierung dieses wichtige Projekt nicht in Angriff nehmen, versäumt sie nicht nur die Umsetzung eines der wichtigsten menschenrechtlichen Vorhaben, sondern muss vor allem die Verantwortung dafür übernehmen, dass Polizeigewalt in Österreich auch weiterhin in vielen Fällen straflos bleibt.“
Sollte diese Regierung dieses wichtige Projekt nicht in Angriff nehmen, versäumt sie nicht nur die Umsetzung eines der wichtigsten menschenrechtlichen Vorhaben, sondern muss vor allem die Verantwortung dafür übernehmen, dass Polizeigewalt in Österreich auch weiterhin in vielen Fällen straflos bleibt.
Teresa Exenberger, Juristin und Advocacy and Research Officer bei Amnesty International