Deine Spende wird heute verdoppelt
Jede Spende bis zum 31. Dezember wird verdoppelt. So entfaltet dein Beitrag doppelte Wirkung und schützt weltweit die Rechte von Menschen in Gefahr.
Bei der Durchsetzung von Lockdown-Maßnahmen geht die Polizei in Europa unverhältnismäßig stark gegen Angehörige ethnischer Minderheiten und marginalisierter Gruppen vor: Amnesty International dokumentiert in einem aktuellen Bericht Übergriffe, diskriminierende Personenkontrollen, unverhältnismäßige Geldstrafen und Zwangsquarantänen durch Polizeibehörden in 12 Ländern.
Der Bericht beleuchtet die Situation in Belgien, Bulgarien, Zypern, Frankreich, Griechenland, Ungarn, Italien, Serbien, Slowakei, Rumänien, Spanien und Großbritannien. Die Recherchen von Amnesty enthüllen ein besorgniserregendes Ausmaß an rassistischer Voreingenommenheit basierend auf institutionellem Rassismus innerhalb der Polizei. Das reflektiert die breitere Problematik, auf die die Black Lives Matter-Bewegung derzeit aufmerksam macht.
Polizeigewalt und Befürchtungen bezüglich institutionellem Rassismus sind keine neuen Phänomene. Doch die COVID-19-Pandemie und die Durchsetzung der Lockdowns haben aufgezeigt, wie weit verbreitet diese Dinge tatsächlich sind.
Marco Perolini, Experte für Westeuropa bei Amnesty International
„Das gefährliche Trio von Diskriminierung, rechtswidriger Gewaltanwendung und polizeilicher Straflosigkeit muss in Europa dringend angegangen werden", sagt Marco Perolini, Experte für Westeuropa bei Amnesty International.
„Die Behörden müssen sich mit den Vorwürfen hinsichtlich institutionellem Rassismus, rassistischer Voreingenommenheit und Diskriminierung innerhalb der Polizei auseinandersetzen, die im Umgang mit der COVID-19-Pandemie deutlich geworden sind. Es wird Zeit, dass Europa diese Praktiken beendet und dem Rassismus vor der eigenen Haustür ins Gesicht sieht“, sagt Barbora Černušáková, Expertin für Osteuropa bei Amnesty International.
Amnesty International fordert daher u. a., dass Staaten Mechanismen schaffen, damit Misshandlungsvorwürfe rasch, unabhängig und gründlich untersucht sowie Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden können. In Österreich gibt es mit den Plänen der Bundesregierung zur Schaffung einer Ermittlungsstelle, die Vorwürfen von Polizeigewalt nachgehen soll, erste positive Schritte in diese Richtung.
Die polizeiliche Durchsetzung der Lockdowns wirkte sich in ärmeren Gegenden am stärksten aus, wo häufig verhältnismäßig viele Angehörige ethnischer Minderheiten leben. Im Département Seine-Saint-Denis, der ärmsten Gegend des französischen Festlands, in der hauptsächlich Schwarze Menschen bzw. Menschen aus Nordafrika leben, wurden dreimal so viele Geldstrafen wegen Lockdown-Verstößen verhängt wie im Rest des Landes, obwohl dort laut Angaben der Kommunalbehörden nicht stärker gegen die Regeln verstoßen wurde als anderswo.
In Nizza wurden in einem Bezirk, der vornehmlich von Arbeiter*innen und Angehörigen ethnischer Minderheiten bewohnt wird, längere nächtliche Ausgangssperren verhängt als im Rest der Stadt. Oft setzte die Polizei rechtswidrige Gewalt ein, wenn sie Straßen- und Personenkontrollen zur Durchsetzung der Lockdown-Regeln durchführte.
Das Vereinigte Königreich ist eines der wenigen europäischen Länder, das nach ethnischen Kriterien aufgeschlüsselte Daten zum Gesetzesvollzug erhebt. Dort registrierte die Londoner Polizei im März und April 2020 einen Anstieg der Polizeikontrollen auf der Straße (stop and searches) um 22 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl Schwarzer Menschen, die auf der Straße angehalten und kontrolliert wurden, um beinahe ein Drittel an.
Amnesty International hat die Echtheit von 34 Videoaufnahmen aus ganz Europa verifiziert, in denen zu sehen ist, wie die Polizei rechtswidrige Gewalt einsetzt – oft, wenn Gewaltanwendung überhaupt nicht notwendig war. In einem Video, das am 29. März ins Internet gestellt wurde, ist zu sehen, wie zwei Ordnungskräfte im spanischen Bilbao einen jungen Mann auf der Straße anhalten, der Berichten zufolge aus Nordafrika stammt. Obwohl der Mann augenscheinlich keine Bedrohung für die Polizeikräfte darstellte, schubsten sie ihn und schlugen ihn mit einem Schlagstock.
Während die Polizist*innen den Mann mit auf dem Rücken gefesselten Händen gegen eine Wand drückten, erschien seine Mutter und informierte die Beamt*innen, dass ihr Sohn in schlechter psychischer Verfassung sei. Daraufhin wurde auch sie von einem Polizisten mit einem Schlagstock attackiert und von drei weiteren Beamt*innen zu Boden gestoßen. Laut Analyse von Amnesty International wandten die Ordnungskräfte stärkere Gewalt an als notwendig; es ist in der Tat fraglich, ob der Einsatz von Gewalt in diesem Fall überhaupt nötig war.
Einige Anwohner*innen, die den Vorfall filmten, wurden wegen „unbefugter Verwendung von Aufnahmen von Ordnungskräften“ mit Geldstrafen belegt. In einem weiteren Video vom 26. April ist zu sehen, wie Samir, ein 27-jähriger Ägypter, der seit zehn Jahren in Frankreich lebt, in Île-Saint-Denis von der Polizei verfolgt wird und schließlich in die Seine springt. Man hört, wie die Polizist*innen einen abschätzigen Begriff für arabische Menschen verwenden und sich über ihn lustig machen. Ein Polizist sagte: „Du hättest ihm ein Gewicht an den Knöchel binden sollen.“ Danach wurde Samir von Ordnungskräften in einem Polizeifahrzeug geschlagen und in Gewahrsam gehalten. Obwohl nie Anklage gegen ihn erhoben wurde, erhielt er eine Anordnung, das Land zu verlassen. Zwei Polizist*innen wurden wegen der rassistischen Beleidigungen vom Dienst suspendiert.
In Bulgarien und der Slowakei wurden Roma-Siedlungen obligatorisch unter Quarantäne gestellt, was von einer diskriminierenden Haltung zeugt. In der Slowakei wurde das Militär abgestellt, um die Quarantäne durchzusetzen. Amnesty International ist der Ansicht, dass die Armee nicht zur Durchsetzung von Maßnahmen abgestellt werden sollte, die auf die öffentliche Gesundheit abzielen.
Vielmehr sollte das Militär nur in Situationen des Gesetzesvollzugs eingesetzt werden, wenn eindeutig nachgewiesen werden kann, dass der Einsatz von regulären Polizeiangehörigen nicht ausreicht. In den vorliegenden Fällen existieren keine derartigen Nachweise. Während der obligatorischen Quarantäneverhängung in Bulgarien waren mehr als 50.000 Roma vom Rest des Landes abgeschnitten und litten unter ernster Lebensmittelknappheit. Einer Umfrage zufolge sank das Medianeinkommen in Roma-Vierteln zwischen März und Mai 2020 um 61 Prozent.
In der bulgarischen Küstenstadt Burgas setzten die Behörden Drohnen mit Wärmesensoren ein, um aus der Ferne die Körpertemperatur von Roma-Bewohner*innen zu messen und ihre Bewegungen zu überwachen. In Jambol im Südosten des Landes setzten die Behörden Flugzeuge ein, um ein Roma-Viertel zu „desinfizieren“, in dem COVID-19 ausgebrochen war und in dem selbst nach Beendigung des landesweiten Ausnahmezustands nach wie vor strenge Quarantäneauflagen galten.
Asylsuchende, Geflüchtete und Migrant*innen in Lagern und Gemeinschaftsunterkünften wurden in Deutschland, Zypern und Serbien mit selektiven Quarantäneauflagen belegt. In Frankreich und Griechenland fanden rechtswidrige Zwangsräumungen statt. So führten die Behörden im Rahmen des Ausnahmezustands in Serbien ein spezielles System ein, das von der Regierung betriebene Unterkünfte für Geflüchtete, Migrant*innen und Asylsuchende selektiv ins Visier nahm: Es wurde eine strenge Quarantäneregelung verhängt, die rund um die Uhr galt und durch Angehörige des Militärs überwacht wurde.
„Die Behörden müssen damit aufhören, diskriminierende Quarantänemaßnahmen für Roma sowie Geflüchtete und Migrant*innen zu verhängen und diese Menschen rechtswidrig aus Lagern und informellen Siedlungen zu vertreiben. Stattdessen müssen sie die Rechte auf Gesundheit und angemessenes Wohnen für alle sicherstellen“, sagt Barbora Černušáková, Expertin für Osteuropa bei Amnesty International.
Auch obdachlose Menschen waren in vielen Ländern unverhältnismäßigen Maßnahmen ausgesetzt. In Italien dokumentierte die Nichtregierungsorganisation Avvocato di Strada mindestens 17 Fälle, in denen obdachlose Menschen Geldstrafen erhielten, weil sie die Regeln hinsichtlich Isolation und Einschränkung der Bewegungsfreiheit nicht einhalten konnten. Auch in Frankreich, Spanien und Großbritannien verhängten die Ordnungskräfte zahlreiche Bußgelder gegen Obdachlose.
In Österreich kündigte die türkis-grüne Regierung im Regierungsprogramm an, eine Ermittlungs- und Beschwerdestelle zu schaffen, die Misshandlungsvorwürfe gegen die Polizei unabhängig untersuchen soll. Die Einbindung externer Expertise aus der Zivilgesellschaft in die Konzeption der Stelle ist angedacht. Amnesty International Österreich begrüßt diesen Schritt.
Eine unabhängige Ermittlungsstelle, die Misshandlungsvorwürfen gegenüber der Polizei nachgeht, ist längst überfällig. Wir alle profitieren von einer Polizei, die professionell und transparent arbeitet und der wir vertrauen können – auch die Polizist*innen selbst.
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
„Die Bereitschaft, zu reflektieren, sich zu verbessern und Polizeiarbeit zu modernisieren ist positiv. Polizist*innen haben eine große Verantwortung und ihre Arbeit ist oft herausfordernd. Umso wichtiger ist, dass bei Vorwürfen rasch und unabhängig aufgeklärt wird – und daraus gelernt wird", sagt Schlack.