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Iran: Mindestens 23 Kinder bei brutaler Niederschlagung von Protesten getötet

13. Oktober 2022

Mindestens 23 Kinder sind bei den andauernden Protesten im Iran rechtswidrig durch Sicherheitskräfte getötet worden. Das ergeben Recherchen von Amnesty International. Sie zeigen, mit welcher Brutalität die Behörden versuchen, die durch den Tod der 22-jährigen Mahsa (Zhina) Amini ausgelösten Proteste im Land zu unterdrücken.

Amnesty International listet in einer neuen Veröffentlichung die Namen und Umstände der Tötung von 23 Kindern durch ungesetzliche Gewalt während der Proteste vom 20. September bis zum 30. September 2022 auf.

Bei den Opfern handelt es sich um 20 Jungen im Alter zwischen 11 und 17 Jahren und drei Mädchen, von denen zwei 16 und eines 17 Jahre alt waren. Die meisten Jungen wurden durch Sicherheitskräfte getötet, die unrechtmässig mit scharfer Munition auf sie schossen. Zwei Jungen starben, nachdem sie aus nächster Nähe mit Metallgeschossen getroffen wurden, während drei Mädchen und ein Junge nach tödlichen Schlägen durch Sicherheitskräfte starben.

Insgesamt machen Kinder 16 % der von Amnesty International erfassten Todesfälle von Demonstrierenden und Unbeteiligten aus. Die Organisation hat bisher die Namen und Daten von 144 Männern, Frauen und Kindern erfasst, die zwischen dem 19. September und dem 3. Oktober von den iranischen Sicherheitskräften getötet wurden.

Bei den erfassten Todesfällen handelt es sich ausschließlich um diejenigen, deren Namen die Organisation bisher ermitteln konnte. Die Organisation setzt ihre Ermittlungen zu den gemeldeten Tötungen fort und geht davon aus, dass die Zahl der Todesopfer höher ist.

Irans Sicherheitskräfte haben fast zwei Dutzend Kinder in einem Versuch getötet, den Widerstandsgeist der mutigen Jugend des Landes zu brechen. Wenn die internationale Gemeinschaft ein Mensch wäre, wie würde sie diesen Kindern und ihren Eltern in die Augen sehen?

Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika

"Sie würde den Kopf senken vor Scham über ihre Untätigkeit gegenüber der weit verbreiteten Straflosigkeit, die die iranischen Behörden für ihre systematischen Verbrechen und groben Menschenrechtsverletzungen genießen", sagt Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika, und sagt weiter:

"Die iranischen Behörden haben wiederholt alle Aufforderungen ignoriert, die rechtswidrige Gewaltanwendung einzustellen und die Verantwortlichen für unrechtmäßige Tötungen, gewaltsames Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen von Demonstrierenden, Umstehenden und Personen, die ihrer Freiheit beraubt wurden, zu verfolgen. Der Preis für diese systematische Straflosigkeit wird mit Menschenleben bezahlt, auch mit dem von Kindern. Die Mitgliedstaaten, die sich im UN-Menschenrechtsrat engagieren, sollten dringend eine Sondersitzung abhalten und eine Resolution zur Einrichtung eines internationalen unabhängigen Untersuchungs- und Rechenschaftsmechanismus für den Iran verabschieden."

Zehn der getöteten Minderjährigen gehörten der unterdrückten belutschischen Minderheit an und wurden am tödlichsten Tag der Protestniederschlagung, am 30. September, von den Sicherheitskräften in Zahedan in der Provinz Sistan und Belutschistan getötet. Von Amnesty International dokumentierte Belege zeigen auf, dass mindestens sieben der in Zahedan getöteten Minderjährigen durch Schüsse ins Herz, den Kopf oder andere lebenswichtige Organe starben.

Aus gut informierten Quellen sowie von Amnesty geprüften audiovisuellen Nachweisen geht hervor, dass einer der Getöteten, der elfjährige Javad Pousheh, mit scharfer Munition in den Hinterkopf getroffen wurde, als die Sicherheitskräfte gewaltsam gegen eine Protestkundgebung vorgingen, die nach dem Freitagsgebet vor einer Polizeiwache und nahe einer Gebetsstätte abgehalten wurde. Die Kugel trat aus seiner rechten Gesichtshälfte wieder aus und hinterließ dabei ein Loch in seiner Wange.

Die weiteren 13 Minderjährigen wurden in den folgenden Provinzen getötet: Teheran (5), West-Aserbaidschan (4), Alborz (1), Kermānschāh (1), Kohgiluye und Boyer Ahmad (1) und Zandschan (1). Zwei der getöteten Minderjährigen waren afghanische Staatsangehörige – der 14-jährige Mohammad Reza Sarvari und die 17-jährige Setareh Tajik.

Die iranischen Behörden verbreiten Fehlinformationen

Der Anwalt von Mohammad Reza Sarvari wurde am 7. Oktober während Protesten in Shahr-e Rey in der Provinz Teheran von Sicherheitskräften erschossen. Zuvor hatte der Jurist am 21. September eine Kopie der Sterbeurkunde des Jungen online gestellt, auf der die Todesursache als „Blutungen und Verletzungen des Hirns“ verursacht durch „Einschuss eines abgefeuerten Projektils“ angegeben war. Der Anwalt schrieb dazu, dass er sich dazu verpflichtet fühle, das offizielle Dokument zu veröffentlichen angesichts dessen, dass Fehlinformationen, die durch die Behörden im Staatsfernsehen und in offiziellen Stellungnahmen verbreitet werden, immer häufiger „Selbstmord“ als Todesursache von Minderjährigen nennen, welche durch Sicherheitskräfte getötet wurden.

Während Protesten in Teheran am 28. September feuerten Sicherheitskräfte sowohl mit Schrotkugeln als auch mit anderer scharfer Munition auf den 17-jährigen Amir Mehdi Farrokhipour. Aus gut informierten Quellen heißt es, er sei an Schusswunden in den Oberkörper gestorben; Geheimdienstmitarbeiter*innen jedoch zwangen seinen Vater, ein Video aufzunehmen, in dem der Vater aussagt, dass sein Sohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Sie hatten dem Vater zuvor gedroht, ihn umzubringen oder andernfalls seiner Tochter etwas anzutun, sollte er sich weigern, das Video aufzunehmen.

Weitere Beispiele für die staatlichen Vertuschungsversuche sind die Fälle der beiden 16-jährigen Mädchen Nika Shakarami und Sarina Esmailzadeh, die starben, nachdem Sicherheitskräfte auf ihre Köpfe eingeschlagen hatten. Geheimdienst- und Sicherheitskräfte bedrohten die Familien der Mädchen massiv, schüchterten sie ein und zwangen sie so, Videos aufzunehmen, in denen die Familien die offizielle Version wiedergaben, nach der die beiden Jugendlichen durch einen Sprung vom Dach „Selbstmord“ begangen hätten.

Die neuste Welle von Tötungen während Protesten hat ihren Ursprung in der tiefsitzenden Krise der systematischen Straflosigkeit für die laut Völkerrecht schwersten Verbrechen. Diese Krise hält im Iran seit langem an, und vor dem Hintergrund des Ausmaßes und Schwere vergangener und aktueller Menschenrechtsverletzungen wird deutlich, dass sich der UN-Menschenrechtsrat noch nicht hinreichend damit befasst hat. Es braucht dringend einen internationalen Untersuchungs- und Rechenschaftsmechanismus, um Beweismaterial der nach dem Völkerrecht schwersten Verbrechen, die im Iran verübt wurden, sowie anderer schwerer Menschenrechtverletzungen zentral zu sammeln, zu sichern und zu analysieren – und zwar in einer Weise, die den allgemeinen Standards der Zulässigkeit von Beweismitteln vor Gericht entspricht. Nur so können die Ermittlungen gegen und die strafrechtliche Verfolgung von denjenigen vorangetrieben werden, die einer Straftat verdächtigt werden.

Die iranischen Behörden bedrohen systematisch die Familien der Opfer und schüchtern sie ein, um die Wahrheit zu verschleiern, dass sie, die Behörden, es sind, die das Blut der Opfer an ihren Händen haben. Diese abscheulichen Vorgehensweisen unterstreichen erneut das Ausmaß und die moralische Anstandslosigkeit gewaltsamen Niederschlagung der Proteste und beweisen zudem, dass es keine Möglichkeiten innerhalb Irans gibt, Wahrheit und Gerechtigkeit zu erlangen.

Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika

Hintergrund

Amnesty International hat aufgedeckt, dass die oberste Militärbehörde im Iran die Kommandierenden der Streitkräfte aller Provinzen angewiesen hat, „mit aller Härte“ gegen Menschen vorzugehen, die nach dem Tod von Mahsa (Zhina) Amini – die im Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei starb – auf die Straße gingen und protestierten. Zudem belegte die Menschenrechtsorganisation den großflächigen und unnötigen Einsatz tödlicher Gewalt und scharfer Munition durch iranische Sicherheitskräfte, die entweder vorsätzlich Protestierende töteten oder mit ausreichender Sicherheit gewusst haben müssten, dass ihr Schusswaffeneinsatz zu Todesfällen führen würde.

Auch in der Vergangenheit sind die iranischen Behörden mit einem ähnlichen Muster rechtswidriger Gewaltanwendung, darunter auch tödliche Gewalt, gegen Protestveranstaltungen vorgegangen. So wurden bei den Protesten im November 2019 beispielsweise Hunderte Demonstrierende und Umstehende getötet, unter ihnen mindestens 21 Minderjährige.