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Die steigende Zahl der Toten im Mittelmeer und die schweren Menschenrechtsverstöße, denen Tausende Geflüchtete und Migrant*innen in libyschen Haftanstalten ausgesetzt sind, stehen eindeutig in Zusammenhang mit dem politischen Versagen der EU. Diese Bilanz zieht Amnesty International in einem neuen Bericht.
Darin kommt Amnesty International zum Schluss, dass die europäischen Regierungen die Hauptverantwortung für die Seenotrettung NGOs überlassen und zunehmend auf die Kooperation mit der libyschen Küstenwache setzen. Damit nehmen sie das Ertrinken von Menschen auf dem Mittelmeer in Kauf und verschließen die Augen davor, dass dieses Verhalten Geflüchtete schweren Menschenrechtsverstößen bis zu Folter und Vergewaltigung aussetzt. Beim EU-Treffen in Tallinn am Donnerstag werden europäische Politiker*innen neue Vorschläge diskutieren, die die ohnehin bereits schlimme Situation noch verschärfen könnten.
Europäische Politiker*innen – auch Sebastian Kurz – verstärken mit ihren populistischen und unrealistischen Sprechblasen das Elend im Mittelmeer.
Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich
„Anstatt Schutz- und Rettungsmaßnahmen auszubauen, prahlen sie damit, die Mittelmeerroute zu schließen. Das hört sich natürlich für viele in Österreich gut an. Doch dass das nicht nur technisch unmöglich ist, sondern auch völkerrechtswidrig, das interessiert niemanden. Nebenbei finanziert die EU die völlig überschießende Gewaltanwendung der sogenannten libyschen Küstenwache – und damit Piraterie.“
Veränderungen im Vorgehen der Schlepper*innen und der zunehmende Einsatz von seeuntüchtigen Booten ohne Sicherheitsausrüstung an Bord machen die Überfahrten über das Mittelmeer noch gefährlicher. Aber trotz eines extremen Anstiegs der Todesfälle – über 2.000 seit Jänner – ist die EU nicht bereit, angemessen ausgestattete und zielgerichtete humanitäre Aktionen in der Nähe von libyschen Gewässern durchzuführen. Stattdessen liegt der Fokus der EU auf der Kooperation mit der libyschen Küstenwache, um so das Ablegen von Booten von der Küste zu verhindern bzw. Boote vom Meer wieder an die Küste zurückzubringen.
„Wenn es so weitergeht, wird 2017 das traurige Rekordjahr 2016 übertreffen und das Mittelmeer wiedermal die tödlichste Fluchtroute der Welt sein", sagt Sandra Iyke, Campaignerin bei Amnesty International Österreich. „Die EU muss endlich mehr Boote dort zur Verfügung stellen, wo sie gebraucht werden und ihre aus menschenrechtlicher Sicht hochproblematische Kooperation mit Libyen beenden. Die einzig menschenwürdige Strategie, um die Anzahl der Toten zu reduzieren, ist, sichere alternative Wege für Menschen auf der Flucht nach Europa zu schaffen.“
Die libysche Küstenwache setzt Geflüchtete und Migrant*innen oft großen Gefahren aus. Ihre Aktionen erfüllen nicht einmal die grundlegenden Sicherheitsstandards und führen oft zu Panik und zum Kentern der Boote. Zudem wurden schwerwiegende Vorwürfe laut, dass Angehörige der libyschen Küstenwache mit Schlepper*innen kooperieren. Es liegen Beweise über die Misshandlung von Migrant*innen vor. Angehörige der Küstenwache geben immer wieder Schüsse auf Boote ab; im vergangenen Monat kam ein Bericht der Vereinten Nationen zu dem Schluss, dass die Küstenwache „durch Schusswaffeneinsatz direkt zum Kentern von Booten beigetragen hat“.
Ein Mann aus Nigeria, der sich gemeinsam mit 140 weiteren Menschen neun Stunden lang auf einem leckenden Boot befand, berichtete Amnesty International: „Wir beteten alle. Ich habe die Lichter [des Rettungsbootes] gesehen und gedacht: bitte, bitte nicht die libysche Polizei.“
Ein Mann aus Bangladesch erzählte Amnesty International von seinen Erfahrungen mit der libyschen Küstenwache: „Wir waren 170 Personen in einem Gummiboot. Sie brachten uns in ein Gefängnis und forderten Geld. Sie sagten uns: ‚Wenn ihr zahlt, wird euch diesmal niemand aufhalten, denn wir sind die Küstenwache‘ ... die libyschen Gefängnisse sind einfach die Hölle.“
Die Zusammenarbeit der EU mit der libyschen Küstenwache, auch im Bereich Training und Ausbildung, geschieht derzeit ohne einen angemessenen Rechenschaftsmechanismus und ohne jegliches System zur Überprüfung von Verhalten und Leistung. Diejenigen, die von der Küstenwache aufgegriffen werden, werden nach Libyen zurückgebracht, wo es derzeit kein Asylrecht und kein funktionierendes Asylsystem gibt und wo man Geflüchtete routinemäßig inhaftiert und foltert. Den Menschen, die in Libyen festsitzen, drohen Menschenrechtsverletzungen und -verstöße wie willkürliche und unbefristete Inhaftierung unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen sowie Folter, Vergewaltigung, Entführung, Zwangsarbeit und sogar Tötung.
Alle Kooperationsvereinbarungen zum Ausbau der Such- und Rettungskapazitäten der libyschen Küstenwache müssen an die Bedingung geknüpft werden, dass sich die Qualität der Einsätze umgehend deutlich verbessert und muss eine klare Rechenschaftspflicht für mögliche Menschenrechtsverstöße geben, fordert Amnesty International. Zudem sollte unbedingt darauf bestanden werden, dass aus Seenot gerettete Personen auf Schiffe gebracht werden, die sie in Länder verbringen, in denen ihrem Schutzbedarf entsprochen wird.
Im April 2015 haben die EU-Mitgliedsstaaten Maßnahmen eingeleitet, um die Seenotrettungskapazitäten zu stärken. Diese haben zu einem erheblichen Rückgang der Toten im Mittelmeer geführt. Doch diese Prioritätensetzung, bei der einige Staaten mehr Rettungsschiffe in der Nähe der libyschen Hoheitsgewässer zur Verfügung stellten, war nur von kurzer Dauer. Stattdessen konzentrierten sich die EU-Regierungen darauf, Schlepper*innen das Handwerk zu legen und das Ablegen von Booten von der libyschen Küste zu verhindern.
Diese Strategie ist jedoch nicht nur gescheitert – sie hat auch dazu geführt, dass der Weg über das Mittelmeer noch gefährlicher wurde. Der Anteil der bei der Überfahrt ums Leben gekommenen Menschen hat sich von 0,89 Prozent in der zweiten Jahreshälfte 2015 auf 2,7 Prozent im Jahr 2017 verdreifacht. Amnesty International Österreich fordert europäische Politiker*innen - auch die österreichische Bundesregierung - daher auf, die Schutz- und Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer zu unterstützen.