© Mohammed Abdulsamad / The Walking Paradox
© Mohammed Abdulsamad / The Walking Paradox
presse

Nigeria: Hilfe für traumatisierte Kinder im bewaffneten Konflikt

27. Mai 2020

Zusammenfassung

  • Verschleppungen, willkürliche Inhaftierungen, Folter und sexueller Missbrauch: Neuer Amnesty-Bericht dokumentiert die schockierende Situation von Mädchen und Jungen während des anhaltenden Konflikts zwischen Boko Haram und dem nigerianischen Militär
  • EU und andere Geldgeber*innen finanzieren zweifelhaftes „Resozialisierungsprogramm“
  • Amnesty International fordert verstärkten Schutz und besseren Zugang zu Bildung

Im Nordosten Nigerias haben jahrelange Gräueltaten durch die bewaffnete Gruppe Boko Haram sowie schwere Menschenrechtsverletzungen durch das Militär tiefe Spuren hinterlassen. Eine ganze Generation von Kindern muss dort dringend Schutz und Zugang zu Bildung erhalten, fordert Amnesty International anlässlich der Veröffentlichung des neues Berichts We dried our tears’: Addressing the toll on children of Northeast Nigeria’s conflict.

Der Bericht zeigt, wie Kinder in den Bundesstaaten Borno und Adamawa zusätzliches Leid durch das Militär erfahren, nachdem sie bereits Opfer von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Boko Haram geworden sind.

Viele Kinder haben bereits Gräueltaten durch Boko Haram erlitten. Wenn die Regierung für Bildung und psychosozialer Betreuung sorgt, könnte dies für den Nordosten neue Chancen eröffnen.

Osai Ojigho, Direktorin von Amnesty International in Nigeria

„Die Streitkräfte Nigerias müssen dringend alle Minderjährigen freilassen, die willkürlich festgehalten werden. Weitere Menschenrechtsverletzungen, die scheinbar darauf abzielen, Tausende Kinder zu bestrafen, müssen eingestellt werden!"

Der Amnesty-Bericht zeigt außerdem, dass internationale Geldgeber*innen ein zweifelhaftes „Resozialisierungsprogramm“ finanzieren. Dessen erklärtes Ziel ist es, ehemalige Boko-Haram-Kämpfer zu resozialisieren. In Wirklichkeit hat es jedoch in weiten Teilen zur rechtswidrigen Inhaftierung von Kindern und Erwachsenen geführt.

Die nigerianischen Behörden werden für eine verlorene Generation verantwortlich sein, wenn sie sich nicht umgehend um Tausende traumatisierte Kinder kümmern, die von dem Konflikt betroffen sind.

Joanne Mariner, Expertin für Krisenarbeit bei Amnesty International

„Die Art und Weise, wie das Militär diejenigen behandelt hat, die den Gräueltaten von Boko Haram entkommen konnten, ist abscheulich. Von massenhafter rechtswidriger Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen über Misshandlung und Folter bis hin zur Duldung von sexuellem Missbrauch durch erwachsene Mitgefangene – es ist schlicht unbegreiflich, dass diejenigen Stellen, die eigentlich für den Schutz dieser Kinder zuständig sind, ihnen solchen Schaden zufügen.“

Brutales Vorgehen von Boko Haram

Zu den Taktiken von Boko Haram zählen Angriffe auf Schulen, die Verschleppung von Kindern, die Anwerbung und der Einsatz von Kindersoldaten sowie die Zwangsverheiratung von Mädchen und jungen Frauen. Das sind alles Verbrechen unter dem Völkerrecht.

Das wahre Ausmaß der Entführungen wird oft unterschätzt – Tausende Kinder sollen verschleppt worden sein. Ein Beispiel ist die Entführung Hunderter Schülerinnen in Chibok im Jahr 2014.

Amnesty International hat mit Mädchen und jungen Frauen gesprochen, die als Minderjährige von Boko-Haram-Kämpfern zur Ehe gezwungen worden waren. Die meisten von ihnen gaben an, von der Regierung wenig bis gar keine Unterstützung bei der Rückkehr in die Schule, bei der Existenzgründung oder beim Zugang zu psychosozialer Betreuung erhalten zu haben.

Inhaftierung durch das Militär

Kinder, die aus Boko-Haram-Gebieten entkommen können, sind oft mit weiteren Menschenrechtsverletzungen – darunter auch Völkerrechtsverbrechen – durch nigerianischen Sicherheitskräfte konfrontiert: Einige von ihnen werden jahrelang in Militärkasernen inhaftiert, gefolter und misshandelt.

Die allermeisten dieser Inhaftierungen sind rechtswidrig: Die Kinder werden nie einer Straftat angeklagt bzw. strafrechtlich verfolgt; die Behörden verweigern ihnen den Zugang zu einem Rechtsbeistand und die Kommunikation mit ihren Familien. Sie stehen außerdem nie vor Richter*innen, um die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung zu prüfen. Diese weitverbreiteten rechtswidrigen Inhaftierungen könnten Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, kritisiert Amnesty International.

Erzwungene „Geständnisse“, unmenschliche Haftbedingungen

Nahezu alle, die aus von Boko Haram gehaltenen Gebieten fliehen, auch Kinder, werden vom nigerianischen Militär und der mit ihm verbündeten Miliz Civilian Joint Task Force „durchleuchtet“. Das bedeutet in vielen Fällen, dass die Betroffenen gefoltert werden, bis sie „zugeben“, eine Verbindung zu Boko Haram zu haben. Mutmaßliche Mitglieder oder Unterstützer*innen von Boko Haram werden oft monate- oder jahrelang unter unerträglichen Bedingungen in Hafteinrichtungen wie der Kaserne Giwa in Maiduguri oder dem Militärstützpunkt Kainji im Bundesstaat Niger festgehalten.

Alle ehemaligen Gefangenen, die Amnesty International interviewte, schilderten übereinstimmend und sehr detailliert ihre Haftbedingungen: extreme Überbelegung, keine Frischluft bei drückender Hitze, Ungeziefer, Urin und Fäkalien auf dem Boden, weil es zu wenige Toiletten gibt.

Die Bedingungen, unter denen Zehntausende Gefangene festgehalten werden, sind so extrem, dass sie Folter darstellen, ein Kriegsverbrechen. Immer noch befinden sich viele Kinder unter diesen Bedingungen in Haft, obwohl es Ende 2019 und Anfang 2020 Massenfreilassungen gab. Amnesty International geht davon aus, dass während des Konflikts mindestens 10.000 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, in der Haft gestorben sind.

Zweifelhaftes Resozialisierungsprogramm „Sicherer Korridor“

Amnesty International hat auch im Zusammenhang mit dem Resozialisierungsprogramm „Safe Corridor“ Verstöße dokumentiert: Das Programm wird mit Millionen US-Dollar von der EU, Großbritannien, den USA und anderen Geldgeber*innen finanziert. Es umfasst ein 2016 gegründetes vom Militär geführtes Haftzentrum außerhalb vom Gombe, in dem mutmaßliche Boko Haram-Kämpfer und -Unterstützer entradikalisiert und resozialisiert werden sollen.

Bislang waren dort rund 270 „Absolventen“ in mehreren Gruppen untergebracht. Die Bedingungen in dieser Einrichtung sind zwar besser als in den übrigen Militärhafteinrichtungen, aber die meisten der Männer und Jungen sind nicht über die rechtliche Grundlage ihrer Inhaftierung informiert worden. Sie haben weder Zugang zu Rechtsbeständen noch zu Gerichten, um ihre Haft anzufechten. In einigen Fällen ist der vereinbarte sechsmonatige Aufenthalt auf 19 Monate verlängert worden. Diese Zeit bedeutet Freiheitsentzug und ständige bewaffnete Überwachung.

Ehemalige Gefangene haben Amnesty International geschildert, dass die medizinische Versorgung extrem schlecht ist. Sieben Inhaftierte sind gestorben, die meisten, wenn nicht alle, weil sie keine angemessene medizinische Versorgung erhalten hatten. Das Berufsausbildungsprogramm, das Teil von „Safe Corridor“ ist, könnte sich als Zwangsarbeit entpuppen, weil die meisten Insassen, wahrscheinlich sogar alle, niemals wegen einer Straftat verurteilt wurden und nun ohne jegliche Bezahlung alles Mögliche herstellen müssen – von Schuhen über Seife bis zu Möbeln.

Hintergrund

Zwischen November 2019 und April 2020 hat Amnesty International mehr als 230 von dem Konflikt betroffene Menschen interviewt, darunter 119, die als Minderjährige Opfer von schweren Verbrechen durch Boko Haram, das nigerianische Militär oder beiden wurden. Zu ihnen gehörten 48 Kinder, die monate- oder sogar jahrelang in Militärgewahrsam gehalten worden waren, sowie 22 Erwachsene, die zusammen mit Kindern inhaftiert waren.