Russland: Kinder im Visier von Verfolgung und Kriegspropaganda
31. Mai 2024Bei ihrem Vorgehen gegen Meinungsfreiheit gehen die russischen Behörden zunehmend gegen Kinder und ihre Familien vor, insbesondere gegen solche, die sich gegen den Angriffskrieg in der Ukraine wenden. Dies ist das Ergebnis eines neuen Berichts von Amnesty International.
Der Bericht Russia: “Your children will go to an orphanage”: Children and the Crackdown on Protest zeigt auf, wie die russischen Behörden Kindern das Recht auf freie Meinungsäußerung absprechen, sie und ihre Familien wegen Kritik am Krieg ins Visier nehmen und sie mit Kriegspropaganda indoktrinieren.
Kinder werden außerdem als Instrument genutzt, um Druck auf kriegskritische Erwachsene auszuüben. Zu den Taktiken gehören die Androhung des Entzugs der Erziehungsberechtigung und in einigen Fällen die Unterbringung der Kinder in staatlichen Einrichtungen. Diese Form der staatlichen Unterdrückung steht in krassem Gegensatz zum öffentlichen Diskurs des Kremls über familiäre Werte, wie Oleg Kozlovsky, Russland-Experte bei Amnesty International, erklärt:
„Zwar spricht der Kreml gerne über Familienwerte, doch in der Praxis beutet er eben diese Bindung zwischen Kindern und ihren Eltern schamlos aus, um kritische Stimmen zu unterdrücken. In diesem politisch motivierten Vorgehen gegen Kinder werden Schulen und Lehrpersonen instrumentalisiert, um sich willkürlich in das Leben der Menschen einzumischen“, so Oleg Kozlovsky, Russland-Experte bei Amnesty International.
Die Schulen indoktrinieren die Kinder mit falschen, von der Regierung vorgeschriebenen Narrativen und melden Andersdenkende direkt der Polizei und dem Geheimdienst.
Oleg Kozlovsky, Russland-Experte bei Amnesty International
„Diejenigen, die sich gegen den Krieg aussprechen, laufen besonders stark Gefahr, dass sie von ihrer Familie getrennt werden bzw. ihnen die Elternrechte entzogen werden. Selbst das entfernte Risiko solcher Repressalien hält viele Menschen aus Angst davon ab, sich frei zu äußern“, so Kozlovsky weiter.
Hartes Vorgehen gegen Kinder und Familien
Kinder und ihre Eltern bzw. Betreuer*innen, die sich dem russischen Angriffskrieg widersetzen, werden über Bildungseinrichtungen und mit repressiven Mitteln wie Heimunterbringung, willkürlicher Festnahme, Durchsuchung und Strafverfolgung ins Visier genommen.
Dies hat bei einigen Kindern bereits zu schwerwiegenden psychischen und körperlichen Gesundheitsfolgen geführt, einschließlich stressbedingter Erkrankungen und Traumata.
Am 5. Oktober 2022 wurde die zehnjährige Varvara (Varya) Galkina von der Polizei in Moskau wegen ihres WhatsApp-Profilbildes verhört, auf dem eine Zeichnung im Anime-Stil zu sehen war, die Unterstützung für die Ukraine signalisierte. Die Polizei bedrohte ihre Mutter, Elena Jolicoeur, und führte eine Hausdurchsuchung bei ihr durch. Nachdem sie zur Teilnahme an einem „präventiven“ Programm für „Eltern, die ihre Pflichten nicht ordnungsgemäß erfüllen“ verpflichtet wurde, floh Elena mit ihren beiden Töchtern aus Angst vor weiterer Verfolgung ins Ausland.
Am 22. November 2023 wurde Yegor Balazeykin aus St. Petersburg im Nordwesten Russlands vor einem Militärgericht zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, weil er zehn Monate zuvor Flaschen mit Dieselkraftstoff und Lackbenzin auf zwei Zentren für Wehrpflichtige geworfen hatte, eine in Russland weit verbreitete Form des Protests gegen den Krieg in der Ukraine. Zum Zeitpunkt des Vorfalls war er 16 Jahre alt. Seine Handlungen richteten keinen Schaden an und wurden unverhältnismäßig als „terroristische Anschläge“ bezeichnet. Da „terroristische“ Fälle vor Militärgerichten verhandelt werden, ist nicht viel über die Umstände anderer ähnlicher Fälle wie dem von Yegor Balazeykin bekannt.
Die zwölfjährige Maria Moskalyova aus Jefremow in Zentralrussland wurde am 1. März 2023 von ihrem Vater Aleksei Moskalyov getrennt und in ein Waisenhaus gebracht, nachdem ihre Familie fast ein Jahr lang verfolgt worden war. Grund hierfür war eine kriegskritische Zeichnung, die sie im April 2022 in der Schule angefertigt hatte. Sie wurde von der Schulleitung bei der Polizei angezeigt. Aleksei Moskalyov, ein alleinerziehender Vater, wurde zunächst zu einer Geldstrafe und später zu zwei Jahren in einer Strafkolonie verurteilt. Grund waren Social-Media-Beiträge, in denen er „wiederholt die russischen Streitkräfte diskreditiert“ haben soll. Maria Moskalyova litt im Waisenhaus unter Stress und Isolation. Infolge öffentlichen Drucks wurde ihr schließlich gestattet, bei Verwandten zu leben.
Am 24. September 2022 nahm die Polizei in der Stadt Ulan-Ude in der autonomen Republik Burjatien im Osten Sibiriens willkürlich die Oppositionelle Natalya Filonova fest, als sie an einer friedlichen Demonstration gegen die Mobilisierung von Reservist*innen für den Krieg in der Ukraine teilnahm. Sie wurde wegen „Gewalt gegen einen Behördenvertreter“ angeklagt und nach mehreren Monaten Hausarrest in einem Untersuchungsgefängnis inhaftiert. Sie bestreitet die Vorwürfe. Ihr 16-jähriges Pflegekind Vladimir Alalykin, das eine Behinderung hat, wurde in einem Waisenhaus untergebracht. Vladimir durfte dem Prozess gegen seine Pflegemutter nicht beiwohnen, und am 31. August 2023 wurde Natalya Filonova zu zwei Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Vladimir wurde im Waisenhaus 18 Jahre alt.
Wenn Eltern oder Erziehungsberechtigte verfolgt werden, hat dies finanzielle Konsequenzen für Familien, was wirtschaftliche Not und die Beeinträchtigung der Bildung der Kinder zur Folge haben kann. In manchen Fällen sind Familien gezwungen, das Land zu verlassen, um der Strafverfolgung oder einer erzwungenen Familientrennung zu entgehen.
In dieser verqueren Welt, zu der sich Russland entwickelt hat, stellen die Polizei, die Gerichte und sogar die Schulen eine unmittelbare Bedrohung für Kinder dar, die nicht die Regierungslinie vertreten.
Oleg Kozlovsky, Russland-Experte bei Amnesty International
Forderungen nach Freilassung von willkürlich Inhaftierten
Amnesty International appelliert an die russischen Behörden, die Rechte von Kindern auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit zu achten und zu schützen, und dafür zu sorgen, dass diese Rechte ohne Angst vor Vergeltung wahrgenommen werden können. Die Behörden müssen damit aufhören, die Rechte von Eltern einzuschränken oder abzuerkennen und Kinder als Strafe für die Ausübung ihrer Menschenrechte in staatliche Obhut zu geben. Soziale Dienste und Kinderrechtsbeauftragte sollten zum Wohl des Kindes handeln und internationale Menschenrechtsnormen respektieren.
Die russischen Behörden müssen zudem die Praxis beenden, Zivilpersonen, insbesondere Kinder, vor Militärgerichte zu stellen. Das Justizsystem darf nicht zur Verfolgung Andersdenkender missbraucht werden und die Kriegspropaganda und politische Indoktrination in den Schulen muss aufhören.
Amnesty International fordert die umgehende Freilassung von allen Personen, die lediglich deshalb in Haft sind, weil sie friedlich von ihren Rechten Gebrauch gemacht haben. Unbegründete terrorismusbezogene Anklagen müssen fallengelassen werden.