Alina Potapova hält bei einer Demonstration in Kiew ein Plakat mit der Aufschrift „Halte durch, meine Liebe“. Ihr Verlobter wird seit Juli 2023 vermisst und befindet sich, wie später bestätigt wurde, in russischer Gefangenschaft. Alina hat keine Briefe von ihm erhalten.  © Oleksandr Khomenko/Amnesty International
Alina Potapova hält bei einer Demonstration in Kiew ein Plakat mit der Aufschrift „Halte durch, meine Liebe“. Ihr Verlobter wird seit Juli 2023 vermisst und befindet sich, wie später bestätigt wurde, in russischer Gefangenschaft. Alina hat keine Briefe von ihm erhalten. © Oleksandr Khomenko/Amnesty International
presse

Russland/Ukraine: Misshandlungen von ukrainischen Gefangenen stellen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar

4. März 2025

Russische Behörden foltern ukrainische Kriegsgefangene und zivile Gefangene, halten sie über längere Zeit ohne Kontakt zur Außenwelt fest und lassen sie verschwinden. Sie behandeln sie unmenschlich. Diese Taten stellen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, so Amnesty International in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der englischsprachige Bericht A Deafening Silence: Ukrainians held incommunicado, forcibly disappeared and tortured in Russian captivity dokumentiert, wie ukrainische Kriegsgefangene und Zivilpersonen, die seit Februar 2022 von Russland gefangen gehalten werden, bewusst von der Außenwelt abgeschnitten werden, oft jahrelang. Diese Unklarheit in Bezug auf ihren Verbleib hat dazu geführt, dass Folter und andere Misshandlungen in Haft und sogar die rechtswidrige Tötung von Kriegsgefangenen ungestraft fortgesetzt werden konnten.

„Die von Russland systematisch gegen ukrainische Kriegsgefangene und Zivilpersonen verhängte Isolationshaft spiegelt ein systematisches Vorgehen wider, das darauf abzielt, diese zu entmenschlichen und zum Schweigen zu bringen. Außerdem lässt es ihre Familien, die auf Nachrichten über ihre Angehörigen warten, in quälender Ungewissheit zurück.“, erklärt die Internationale Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard.

Die Folter findet in völliger Isolation von der Außenwelt statt, und die Betroffenen sind ihren Peiniger*innen völlig ausgeliefert. Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern um ein systematisches Vorgehen, das gegen das Völkerrecht verstößt.

Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International

Der Bericht von Amnesty International basiert auf Interviews, die zwischen Januar und November 2024 mit 104 Personen in der Ukraine geführt wurden. Dazu gehören fünf ehemalige ukrainische Kriegsgefangene, Familienangehörige von 38 Kriegsgefangenen, Familienangehörige von 23 Ukrainer*innen, die „unter besonderen Umständen vermisst werden“, 28 ehemals inhaftierte Zivilpersonen und ihre Angehörigen sowie 10 russische Kriegsgefangene, die derzeit in der Ukraine inhaftiert sind. 

Die internationale Gemeinschaft sollte all ihren Einfluss und sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Mechanismen gegen Russland einsetzen, einschließlich der universellen Gerichtsbarkeit, um diese abscheulichen Verbrechen nach internationalem Recht zu stoppen und sicherzustellen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Ohne Gerechtigkeit wird sich das Leiden der ukrainischen Kriegsgefangenen, Zivilpersonen und ihrer Familien nur weiter verschlimmern.

Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International

Quälendes Nichtwissen

Die genaue Zahl der Gefangenen ist nicht bekannt, aber es ist davon auszugehen, dass Tausende von Ukrainer*innen, sowohl Militärangehörige als auch Zivilpersonen, derzeit in Russland und der besetzten Ukraine gefangen gehalten werden. 

Die meisten ukrainischen Kriegsgefangenen werden ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten, und ihre Familien erhalten nur wenige oder gar keine Informationen über ihre Lage, ihren Status oder ihren Aufenthaltsort.

Gleichzeitig haben die russischen Behörden internationalen Organisationen den Zugang zu den Gefangenen verweigert. Dies ist Teil einer bewussten Politik, die Kriegsgefangene dem Schutz des Völkerrechts entzieht. Eine längere Inhaftierung ohne Kontakt zur Außenwelt kann eine unmenschliche Behandlung darstellen. 

Die Vermissten 

Zehntausende von Ukrainer*innen werden von den ukrainischen Behörden als „unter besonderen Umständen vermisst“ eingestuft. Viele von ihnen befinden sich wahrscheinlich in russischer Haft, während andere möglicherweise getötet wurden. In einigen Fällen hat Russland die Gefangenschaft einzelner Kriegsgefangener bestätigt, indem es das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) entsprechend dem Völkerrecht benachrichtigte. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Russland das IKRK nicht über den Status von Hunderten oder Tausenden weiterer Kriegsgefangener informiert hat. 

Auch unter der Zivilbevölkerung gibt es eine beträchtliche Anzahl von Personen, die dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen sein sollen. Russland setzt seit langem willkürliche Festnahmen, Folter und die Praxis des Verschwindenlassens ein, um die Zivilbevölkerung in den von ihm kontrollierten Gebieten einzuschüchtern. Solche Handlungen stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. 

Systematische Folter und Verweigerung der medizinischen Behandlung 

Amnesty International dokumentierte erschütternde Berichte über Folter und verweigerte medizinische Behandlung in russischer Gefangenschaft.

Sie fingen sofort an, mich zu foltern. Sie schlugen mich mit Elektroschockern, diesen speziellen Stöcken, es war sehr schmerzhaft. Ich habe gesehen, wie einige der Jungs danach starben. Ihre Herzen konnten es einfach nicht mehr ertragen.

Wolodymyr Schewtschenko, der über zwei Jahre als Kriegsgefangener in russischer Gefangenschaft verbrachte

Der ehemalige ukrainische Kriegsgefangene Serhii Koroma, der vor seiner Gefangennahme schwer verwundet wurde, berichtete, dass man ihm lediglich ein örtliches Antiseptikum verabreichte. So sei er sich selbst überlassen worden – zur Genesung oder zum Sterben.

Verstoß gegen die Genfer Konventionen 

Das Vorgehen Russlands verstößt in eklatanter Weise gegen die Genfer Konventionen, die Kriegsgefangenen das Recht auf regelmäßigen Schriftverkehr, Zugang zu medizinischer Versorgung und Besuche internationaler Organisationen garantieren. 

Amnesty International fordert Russland auf, sein Vorgehen gegen ukrainische Gefangene zu beenden. Dies umfasst Folterungen, das Verschwindenlassen und die Inhaftierung ohne Kontakt zur Außenwelt. Die russischen Behörden müssen außerdem die zuständigen Stellen über den Status aller ihrer Kriegsgefangenen informieren und internationalen humanitären Organisationen ungehinderten Zugang zu ihnen gewähren. Russland muss zudem für eine angemessene medizinische Versorgung aller ukrainischen Gefangenen sorgen und schwerkranke und verwundete Kriegsgefangene direkt zurückführen, unter anderem durch die Einrichtung medizinischer Kommissionen. Unrechtmäßig inhaftierte Zivilpersonen müssen freigelassen werden.

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