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Die russischen Behörden haben Zivilpersonen aus besetzten ukrainischen Gebieten zwangsweise nach Russland oder weiter ins Innere der russisch kontrollierten Gebiete umgesiedelt und verschleppt, so Amnesty International im Bericht “Like a Prison Convoy”: Russia’s Unlawful Transfer of Civilians in Ukraine and Abuses During ‘Filtration’. Zahlreiche Kinder wurden dabei unter Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht von ihren Familien getrennt.
Das Vorgehen scheint eine bewusste Strategie Russlands sein. Amnesty International stellt klar, dass es sich dabei um Kriegsverbrechen und möglicherweise auch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt.
Der Bericht dokumentiert auch so genannte „Filtrationsprozesse“, bei denen Zivilpersonen aus der Ukraine durch die russischen Behörden gezwungen wurden, sich einem erniedrigenden Überprüfungsverfahren zu unterziehen. Dabei machten Beamt*innen Fotos der Menschen, nahmen ihre Fingerabdrücke, durchsuchten ihre Handys und befragten sie lang und ausgiebig. Einige Männer wurden gezwungen, den Oberkörper zu entkleiden. Der Durchsuchungsprozess verletzt das Recht dieser Menschen auf Privatsphäre und körperliche Unversehrtheit.
Zum Teil gingen die Filtrationen auch mit willkürlichen Festnahmen sowie Folter und Misshandlung einher, unter anderem durch Schläge, Elektroschocks und der Drohung, dass sie hingerichtet würden. Diese Behandlungen stellen Kriegsverbrechen dar, wie Amnesty festhält. Manche Personen erhielten weder Nahrung noch Wasser, und viele wurden unter gefährlichen Bedingungen in überfüllten Einrichtungen festgehalten.
In einem von Amnesty dokumentierten Fall wurde eine Mutter während des „Filtrationsprozesses“ von ihrem elfjährigen Sohn getrennt und daraufhin inhaftiert, ohne wieder mit ihm zusammengeführt zu werden. Dies verstößt eindeutig gegen das humanitäre Völkerrecht. Der Junge berichtete Amnesty International: „Sie brachten meine Mutter in ein anderes Zelt. Sie wurde befragt (...) Sie sagten mir, dass ich meiner Mutter weggenommen werden würde (...) Ich war geschockt (...) Sie sagten mir nicht, wo meine Mutter hingebracht wurde (...) Ich habe seitdem nichts mehr von ihr gehört.“
Amnesty dokumentiert in dem Bericht auch, dass das Verfahren zur Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft für Kinder vereinfacht wurde, die entweder als Waisen oder ohne elterliche Fürsorge gelten, sowie für einige Menschen mit Behinderungen. Damit sollte die Adoption dieser Kinder durch russische Familien erleichtert werden, was einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt. Außerdem gaben mehrere Personen an, sich unter Druck gesetzt zu fühlen, die russische Staatsangehörigkeit zu beantragen, sobald sie sich in Russland befanden, da ansonsten ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, an sich bereits ein völkerrechtliches Verbrechen, haben die russischen Truppen unterschiedslos Zivilpersonen angegriffen und getötet, unzählige Leben zerstört und Familien auseinandergerissen. Kinder wurden von ihren Familien getrennt und Menschen wurden gezwungen, in Gegenden umzuziehen, die Hunderte Kilometer von ihrer Heimat entfernt liegen. Dies zeigt einmal mehr auf, wie stark die ukrainische Zivilbevölkerung unter der russischen Invasion zu leiden hat.
Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International
Die russische Taktik der Zwangsumsiedlung und Verschleppung stellt ein Kriegsverbrechen dar und Amnesty International ist der Ansicht, dass dies überdies als Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersucht werden muss.
Alle Personen, die zwangsweise umgesiedelt wurden und nach wie vor rechtswidrig festgehalten werden, müssen außerdem die Möglichkeit erhalten, ihren derzeitigen Aufenthaltsort wieder zu verlassen. Alle, die für diese Verbrechen verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Minderjährige, die sich unter russischer Aufsicht befinden, müssen wieder mit ihren Familien zusammengeführt werden, und es muss ihnen die Rückkehr in ukrainisch kontrollierte Gebiete ermöglicht werden, so die Forderungen von Amnesty International.
Für den vorliegenden Bericht sprach Amnesty International mit 88 Menschen aus der Ukraine. Bei den meisten handelte es sich um Zivilpersonen aus Mariupol oder aus den Regionen Charkiw, Luhansk, Cherson und Saporischschja. Die meisten Menschen, insbesondere diejenigen aus Mariupol, beschrieben Situationen, in denen sie faktisch keine andere Wahl hatten, als sich nach Russland oder in andere russisch besetzte Gebiete schicken zu lassen.
Zum Zeitpunkt der Interviews befanden sich bis auf eine alle Personen in Gebieten, die von der Ukraine kontrolliert werden, oder in sicheren Drittländern in Europa. Eine Person befindet sich weiterhin auf von Russland kontrolliertem Gebiet.
Seit dem Beginn des Krieges dokumentiert Amnesty International Kriegsverbrechen und andere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die während Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine verübt werden. Alle Berichte von Amnesty International sind hier einsehbar.
Amnesty International hat wiederholt dazu aufgerufen, die Angehörigen der russischen Streitkräfte und die für die Aggressionen gegen die Ukraine und für Verstöße Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Organisation begrüßt die fortlaufenden Untersuchungen des Internationalen Strafgerichthofes in der Ukraine. Eine umfassende Feststellung der Verantwortlichkeit für das in der Ukraine Geschehene kann nur mit konzertierten Aktionen der Vereinten Nationen und ihrer Organe und mit Initiativen auf nationaler Ebene gemäß dem Weltrechtsprinzips gelingen.
Anfang März 2022 war die Stadt Mariupol im Südosten der Ukraine komplett von russischen Truppen umstellt, was Evakuierungen unmöglich machte. Die Stadt wurde beinahe ununterbrochen beschossen und die Zivilbevölkerung hatte keinen ausreichenden Zugang zu fließend Wasser, Strom und Heizmöglichkeiten.
Tausende Menschen konnten Mitte März aus Mariupol in ukrainisch kontrollierte Gebiete evakuiert werden. Doch als die russischen Streitkräfte die Stadt nach und nach besetzten, siedelten sie einen Teil der Zivilbevölkerung gegen deren Willen in Stadtteile um, die unter russischer Kontrolle standen. Damit wurden diese Zivilpersonen von anderen Fluchtwegen abgeschnitten. Zahlreiche Menschen gaben an, sich genötigt gefühlt zu haben, „Evakuierungsbusse“ in die sogenannte Volksrepublik Donezk zu besteigen.
Die 33-jährige Milena sprach mit Amnesty International über ihren Versuch, Mariupol zu verlassen: „Wir fingen an, nach einer Evakuierung zu fragen und wo wir hingehen könnten (...) [Ein russischer Soldat] sagte mir, dass es nur möglich sei, in die Volksrepublik Donezk oder nach Russland zu gehen. Eine andere Frau erkundigte sich nach anderen Möglichkeiten [der Evakuierung], zum Beispiel in die Ukraine (...) Die Antwort kam sofort, der Soldat unterbrach sie und sagte: ‚Du gehst entweder in die Volksrepublik Donezk oder die Russische Föderation, oder du bleibst für immer hier‘.“
Der Ehemann von Milena, ein ehemaliger Marinesoldat des ukrainischen Militärs, wurde kurz darauf beim Grenzübertritt nach Russland inhaftiert und befindet sich nach wie vor in Gewahrsam.
Das humanitäre Völkerrecht verbietet die Zwangsumsiedlung, gleich ob vereinzelt oder massenhaft, von geschützten Personen – wie z. B. Zivilpersonen – aus besetzten Territorien. In mehreren Fällen wurden Minderjährige, die ohne ihre Eltern oder andere Vormunde in Richtung ukrainisch kontrollierter Gebiete flohen, an russischen Militärkontrollpunkten angehalten und unter die Aufsicht der Behörden russisch kontrollierter Regionen in Donezk gestellt.
Der Amnesty-Bericht enthält auch Informationen darüber, wie 92 Bewohner*innen einer staatlichen Einrichtung für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen in Mariupol zwangsweise nach Donezk umgesiedelt wurden. Amnesty International dokumentierte mehrere Fälle, in denen ältere Menschen aus der Ukraine offenbar nach der Flucht aus ihren Heimatorten in Einrichtungen in Russland oder russisch besetzten Gebieten eingewiesen wurden. Diese Praxis verstößt gegen die Rechte der Betroffenen und erschwert ihnen das Verlassen Russlands bzw. die Familienzusammenführung in der Ukraine oder anderswo.
Amnesty International hat mehrere Fälle dokumentiert, in denen Menschen während ihrer Zeit der Inhaftierung Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt waren. In einem Fall ging es um eine 31-jährige Frau und in anderen Fällen um einen 17-jährigen Jungen sowie um fünf Männer zwischen 20 und 40 Jahren.
Vitalii (31) wurde festgenommen, als er am 28. April versuchte, mit einem „Evakuierungsbus“ Mariupol zu verlassen. Die russischen Soldaten sagten ihm, es gäbe ein Problem mit seinen Papieren, und zwangen ihn und mehrere anderen Männer, in einen anderen Bus zu steigen. Vitalii wurde nach Dokutschajewsk, einer Kleinstadt nahe Donezk, gebracht und dort mit 15 anderen Männern in eine Zelle gesperrt. Anschließend wurde Vitalii verhört.
Gegenüber Amnesty International gab er an: „Sie fesselten meine Hände mit Klebeband und stülpten mir einen Sack über den Kopf. Den Sack befestigten sie mit Klebeband um meinen Hals (…) Dann sagten sie: ‚Sag uns alles (…) Sag uns, wo du stationiert bist, auf welcher Basis?’ (…) [Als ich sagte, dass ich kein Soldat sei,] begannen sie, mich in den Bereich der Nieren zu schlagen (…) Ich fiel auf die Knie und sie traten auf mich ein. Als sie mich zu der Garage zurückbrachten, sagten sie zu mir: ‚Wir werden das jeden Tag mit dir machen.‘“
Amnesty International hat mehrere Fälle dokumentiert, die laut Menschenrechtsnormen als Verschwindenlassen eingestuft werden können und darüber hinaus wegen schwerer Freiheitsberaubung, Folter und anderer erniedrigender Behandlungen als Kriegsverbrechen angesehen werden können.
Hussein, ein 20-jähriger Student aus Aserbaidschan, wurde festgenommen, als er Mitte März aus Mariupol nach Saporischschja fliehen wollte. Er wurde einen Monat lang festgehalten und ihm wurde vorgeworfen, im ukrainischen Militär zu dienen. Während seinen Verhören wurde er geschlagen.
Hussein gab Amnesty International gegenüber an: „Einer der Soldaten sagte: ‚So wird er uns nichts erzählen, her mit dem den Elektroschocker‘ (…) Es gab zwei Kabel. Sie schlossen sie an meine großen Zehen an und gaben mir wiederholt Elektroschocks (…) Sie schlugen mich mehrfach (…) Ich verlor das Bewusstsein. Sie schütteten mir einen Eimer Wasser über den Kopf und ich kam wieder zu mir. Ich konnte es nicht mehr aushalten, und so sagte ich einfach: ‚Ja, ich bin Soldat.‘ Sie schlugen mich weiter, ich fiel vom Stuhl und sie setzten mich zurück auf den Stuhl. Meine Füße bluteten.” Sie drohten Hussein, ihn hinzurichten, und bis ein paar Tage vor seiner Freilassung am 12. April wurde er täglich geschlagen und erhielt Elektroschocks.