Ukraine Krieg Donbass ADAM 285983 C Scott Olson Getty Images
presse

Ukrainische Kampftaktik gefährdet Zivilist*innen

4. August 2022

Update 17. Mai 2023:

Im August 2022 löste die Pressemitteilung von Amnesty International zum Vorgehen des ukrainischen Militärs international wie in Österreich Kritik aus. Amnesty International hat diese Kritik sehr ernst genommen und sich intensiv mit ihr auseinandergesetzt. Hierzu wurde u.a. auf internationaler Ebene durch Amnesty International ein unabhängiger Review-Prozess angestoßen, der aus einer völkerrechtlichen Analyse, aus der Auswertung interner Abläufe sowie der Ableitung von Empfehlungen besteht.  

Die Ergebnisse des Reviews liegen nun vor. Im nächsten Schritt wird die globale Bewegung von Amnesty International die Ergebnisse intern miteinander kritisch diskutieren und dort, wo nötig, Empfehlungen für die zukünftige Arbeit von Amnesty ableiten und umsetzen.   

Amnesty International verurteilt den völkerrechtswidrigen Krieg und das Verbrechen der Aggression Russlands gegen die Ukraine. Wir bringen unsere Solidarität mit den Menschen in der Ukraine zum Ausdruck. Wir arbeiten weiter an der Dokumentation von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen und unterstützen die Bemühungen, die Verantwortlichen von Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.

Zusammenfassung

 

Die ukrainischen Streitkräfte haben bei der Abwehr der russischen Invasion Zivilist*innen in Gefahr gebracht, indem sie Militärstützpunkte in Wohngebieten, Schulen und Krankenhäusern errichtet haben, so Amnesty International heute.

Solche Taktiken verstoßen gegen das humanitäre Völkerrecht und gefährden die Zivilbevölkerung, da sie zivile Objekte zu militärischen Zielen machen. Die daraus resultierenden russischen Angriffe auf bewohnte Gebiete haben Zivilpersonen getötet und die zivile Infrastruktur zerstört.

Die ukrainischen Streitkräfte gefährden Zivilist*innen und verletzen das Kriegsrecht, wenn sie in bewohnten Gebieten operieren.

Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International

„Dass sich die Ukraine in einer Verteidigungsposition befindet, entbindet das ukrainische Militär nicht von der Einhaltung des humanitären Völkerrechts.“
Nicht alle von Amnesty International dokumentierten russischen Angriffe auf zivile Objekte folgen jedoch diesem Muster. An mehreren anderen Orten, an denen Amnesty International zu dem Schluss kam, dass Russland Kriegsverbrechen begangen hat, beispielsweise in einigen Gebieten der Stadt Charkiw, fand die Organisation keine Hinweise auf ukrainische Streitkräfte, die sich in den vom russischen Militär widerrechtlich angegriffenen zivilen Gebieten befanden.

Zu den Untersuchungen

Zwischen April und Juli verbrachten Forscher*innen von Amnesty International mehrere Wochen damit, die russischen Angriffe in den Regionen Charkiw, Donbas und Mykolaiv zu untersuchen. Die Organisation inspizierte die Anschlagsorte, befragte Überlebende, Zeug*innen und Angehörige der Opfer und führte Fernerkundungen und Waffenanalysen durch.

Bei diesen Untersuchungen fanden die Forscher*innen Beweise dafür, dass die ukrainischen Streitkräfte in 19 Städten und Dörfern in den Regionen Angriffe von bewohnten Wohngebieten aus starteten und sich in zivilen Gebäuden verschanzten. Das Crisis Evidence Lab der Organisation hat Satellitenbilder ausgewertet, um einige dieser Vorfälle weiter zu bestätigen.

Die meisten Wohngebiete, in denen sich die Soldaten aufhielten, waren kilometerweit von den Frontlinien entfernt. Es gab praktikable Alternativen, die die Zivilbevölkerung nicht gefährdet hätten – wie Militärbasen oder dicht bewaldete Gebiete.

In den von Amnesty International dokumentierten Fällen ist nicht bekannt, dass das ukrainische Militär die Zivilbevölkerung aufgefordert oder ihr geholfen hätte, betroffene Gebiete zu evakuieren. Das Militär versäumte es demnach, alle möglichen Vorkehrungen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu treffen.

Angriffe von zivilen Wohngebieten

Überlebende und Zeugen der russischen Angriffe in den Regionen Donbas, Charkiw und Mykolajiw berichteten Amnesty International, dass das ukrainische Militär zum Zeitpunkt der Angriffe in der Nähe ihrer Häuser operierte und dadurch die Gebiete dem Vergeltungsfeuer der russischen Streitkräfte aussetzte. Amnesty International wurde an zahlreichen Orten Zeuge dieses Vorgehens.

Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet alle Konfliktparteien, militärische Ziele in oder in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten so weit wie möglich zu vermeiden. Weitere Verpflichtungen zum Schutz der Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen von Angriffen bestehen darin, die Zivilbevölkerung aus der Nähe von militärischen Zielen zu entfernen und vor Angriffen, die die Zivilbevölkerung treffen könnten, wirksam zu warnen.

Militärbasen in Krankenhäusern

Amnesty International konnte an fünf Orten beobachten, wie ukrainische Streitkräfte Krankenhäuser de facto als Militärstützpunkte nutzten. In zwei Städten ruhten sich Dutzende von Soldaten in den Krankenhäusern aus, hielten sich dort auf und nahmen dort ihre Mahlzeiten ein. In einer anderen Stadt feuerten die Soldaten aus der Nähe des Krankenhauses.

Bei einem russischen Luftangriff am 28. April wurden zwei Mitarbeiter*innen eines medizinischen Labors in einem Vorort von Charkiw verletzt, nachdem die ukrainischen Streitkräfte auf dem Gelände einen Stützpunkt eingerichtet hatten.

Die Nutzung von Krankenhäusern für militärische Zwecke stellt einen klaren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar.

Militärstützpunkte in Schulen

Das ukrainische Militär hat ebenfalls Stützpunkte in Schulen in Städten und Dörfern im Donbass und in der Region Mykolaiv eingerichtet. Die Schulen wurden seit Beginn des Konflikts vorübergehend geschlossen, doch in den meisten Fällen befanden sich die Gebäude in der Nähe von bewohnten zivilen Vierteln.

In 22 der 29 besuchten Schulen wurden die Räumlichkeiten von Soldaten genutzt oder Beweise für militärische Aktivitäten gefunden wie etwa Militärkleidung, weggeworfene Munition oder Essenspakete der Armee.

Die russischen Streitkräfte haben viele der von den ukrainischen Streitkräften genutzten Schulen angegriffen. In mindestens drei Städten zogen die ukrainischen Soldaten nach der russischen Bombardierung in andere Schulen in der Nähe um, so dass die umliegenden Stadtteile der Gefahr ähnlicher Angriffe ausgesetzt waren.

Das humanitäre Völkerrecht verbietet es den Konfliktparteien nicht ausdrücklich, sich in Schulen einzunisten, die nicht in Betrieb sind. Die Streitkräfte sind jedoch verpflichtet, Schulen, die sich in der Nähe von Häusern oder Wohngebäuden voller Zivilist*innen befinden, nicht zu nutzen, es sei denn, es besteht eine zwingende militärische Notwendigkeit. Wenn dies der Fall ist, sollten sie die Zivilbevölkerung warnen und ihr gegebenenfalls bei der Evakuierung helfen. Dies scheint in den von Amnesty International untersuchten Fällen nicht geschehen zu sein.

Wahllose Angriffe der russischen Streitkräfte

Viele der russischen Angriffe, die Amnesty International in den letzten Monaten dokumentiert hat, wurden mit unterschiedslos wirkenden Waffen, einschließlich international geächteter Streumunition, oder mit anderen explosiven Waffen mit großflächiger Wirkung durchgeführt.

Die Praxis des ukrainischen Militärs, zivile Objekte für militärische Zwecke zu nutzen, rechtfertigt in keiner Weise wahllose russische Angriffe. Alle Konfliktparteien müssen jederzeit zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten unterscheiden können und alle möglichen Vorkehrungen treffen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung zu minimieren. Wahllose Angriffe, bei denen Zivilpersonen getötet oder verletzt oder zivile Objekte beschädigt werden, sind Kriegsverbrechen.

Die ukrainische Regierung sollte unverzüglich dafür sorgen, dass ihre Streitkräfte nicht in bewohnten Gebieten stationiert werden. Sie sollte Zivilpersonen aus Gebieten evakuieren, in denen das Militär operiert.

Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International

Amnesty International kontaktierte das ukrainische Verteidigungsministerium am 29. Juli 2022 mit den Ergebnissen der Untersuchung. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte das Ministerium noch nicht geantwortet.