Deine Spende wird heute verdoppelt
Jede Spende bis zum 31. Dezember wird verdoppelt. So entfaltet dein Beitrag doppelte Wirkung und schützt weltweit die Rechte von Menschen in Gefahr.
Veröffentlicht am 6.9.21
Den Begriff der Menschenrechte verbinden viele mit Meinungsäußerungsfreiheit oder dem Verbot der Folter. Dabei gehört noch viel mehr dazu: Unser aller Rechte, eine Bildung zu erhalten, am kulturellen Leben teilzunehmen und genügend sauberes Wasser und Nahrung zu haben. All diese wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte) sind neben den bürgerlich-politischen Rechten unverzichtbar, damit Menschen in Würde leben können. Deshalb kämpft Amnesty International für alle Rechte – für alle Menschen.
> Welche wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gibt es?
> Menschenrechtsdokumente: Wie sind die WSK-Rechte verankert?
> Unteilbarkeit der Menschenrechte
> Wie können WSK-Rechte durchgesetzt werden?
> Kann jeder Mensch WSK-Rechte einklagen?
> Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Österreich
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle (WSK-) Rechte sind bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 zu finden. Das Gründungsdokument der Vereinten Nationen bietet die Grundlage für soziale Menschenrechte, so stellt beispielsweise Artikel 22 der AEMR, die soziale Sicherheit für ein menschenwürdiges Leben in den Mittelpunkt.
1966 wurden die WSK-Rechte im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR, auch: UN-Sozialpakt, Pakt I) besonders verankert. Sowohl der Pakt über bürgerliche und politische Rechten (UN-Zivilpakt, Pakt II), als auch der UN-Sozialpakt traten 1976 in Kraft und sind für die Vertragsstaaten rechtsverbindlich.
Darüber hinaus sind WSK-Rechte auch in anderen gruppenspezifischen Verträgen der Vereinten Nationen verankert. Dazu zählen beispielsweise die Kinderrechtskonvention, die Frauenrechtskonvention, die Anti-Rassismus-Konvention oder die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Obwohl bürgerliche und politische Rechte und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte formal in zwei Pakte unterschieden werden, können sie nicht getrennt und unabhängig voneinander gesehen werden. Diese Unteilbarkeit der Menschenrechte wurde auch auf der Weltkonferenz über Menschenrechte der Vereinten Nationen, die 1993 in Wien stattfand, wie folgt festgehalten: „Alle Menschenrechte sind allgemein gültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinneszusammenhang“.
Beispielsweise ist das Recht auf Bildung und Arbeit unabdingbar für das Recht auf soziale und politische Teilhabe. Das Recht auf psychische und physische Gesundheit oder das Recht auf Nahrung sind Voraussetzungen für den Genuss aller Menschenrechte und wesentlich für das Recht auf Leben. Wenn WSK-Rechte verletzt werden, wird letztlich auch das Recht auf ein menschenwürdiges Leben verletzt.
Ein wesentlicher Grundsatz der WSK-Rechte ist das Diskriminierungsverbot, aufgrund der Herkunft, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status. Dennoch werden einem großen Teil der Menschen weltweit ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verwehrt. Mehr als 800 Millionen Menschen weltweit sind unterernährt – das Pandemie-Jahr 2020 verschlimmerte den Hunger auf der ganzen Welt dramatisch. Mehr als 5 Millionen Kinder sterben jedes Jahr, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben und mehr als 262 Millionen Kinder weltweit können nicht zur Schule gehen. Ganze Bevölkerungsgruppen – etwa Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten, Geflüchtete, armutsbetroffene Menschen – werden von grundlegenden Rechten systematisch ausgeschlossen und sind Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt.
WSK-Rechte zielen darauf ab, allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu garantieren, indem Staaten dazu verpflichtet werden, Chancengleichheit und gerechte Ressourcenverteilung sicherzustellen.
Für eine gerechte Ressourcenverteilung braucht es auch internationale Kooperation zwischen den Staaten. Mit der Ratifizierung des UN-Sozialpaktes hat sich Österreich auch dazu verpflichtet, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auch in anderen Ländern zu achten, zu schützen und Maßnahmen zu setzen, damit diese Rechte weltweit verwirklicht werden. Einen Bericht darüber, wie sich Österreichs Steuer-, Handels-, Rohstoff-, Klima-, Agrar-, Ernährungs- und Entwicklungspolitik auf Menschenrechte in Ländern des Globalen Südens auswirkt, hat die AG Globale Verantwortung veröffentlicht.
Der Staat hat außerdem unmittelbare Verpflichtungen, konkrete und gezielte Schritte zu setzen, um so schnell wie möglich auf die vollständige Verwirklichung dieser Rechte hinzuarbeiten; WSK-Rechte für alle ohne Diskriminierung zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass es Mindestmaß dieser Rechte stets für jeden Menschen gewährleistet ist, zB eine grundlegende medizinische Versorgung.
Bild: Brot backen in einer provisorischen Siedlung in Kabul (c)
Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten umfassen ein sehr breites Feld. Manchmal wird daher argumentiert, dass sie zu vage formuliert seien, um gerichtlich durchsetzbar zu sein. Doch Gerichtsurteile auf der ganzen Welt belegen das Gegenteil. Auch der UN-Fachausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat sich ausführlich zur Frage der unmittelbaren gerichtlichen Anwendbarkeit der WSK-Rechte geäußert und deutlich aufgezeigt, dass sie direkt zur Anwendung kommen können. Es liegt in der Natur von allgemein gültigen Prinzipien, dass sie konkretisiert werden müssen. „Meinungsäußerungsfreiheit“ ist genauso wie „Privatleben“ ein Begriff, dessen konkrete Bedeutung erarbeitet werden musste und sich noch immer weiterentwickelt. Das gilt gleichermaßen für „soziale Sicherheit“ oder auch „adäquaten Lebensstandard“ und andere soziale Rechte. Es liegt an politischen Akteur*innen und der nachprüfenden Kontrolle durch Gerichte diesen Begriffen in einem speziellen Kontext Bedeutung zu geben. Die WSK-Rechte geben eine Zielrichtung vor, die Richtschnur für die Gestaltung von Gemeinschaft und Öffentlichkeit sind. Verwaltung, Politik und Gerichte sind gefordert, den Prinzipien zu folgen und sie durch Handlungsanweisungen, Gesetze und Verordnungen zu konkretisieren und durchzusetzen.
Die rechtliche Durchsetzbarkeit von WSK-Rechten bedeutet nicht, dass jede*r Mensch einen Anspruch auf eine individuelle Leistung wie eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz hat. Die Verpflichtung des Staates besteht darin, sicherzustellen, dass Einrichtungen, Güter und Dienstleistungen für alle erschwinglich und zugänglich sind, was aber nicht kostenlos bedeutet. Die Regierung muss sicherstellen, dass die direkten oder indirekten Kosten für z.B. Gesundheitsversorgung oder Wohnraum einen Menschen nicht daran hindern, diese in Anspruch zu nehmen oder ihre Fähigkeit, andere Menschenrechte zu genießen, beeinträchtigen.
Obwohl Österreich sowohl den IPwskR, die Europäsiche Sozialcharta und auch die Grundrechtecharta der EU ratifiziert hat und sich durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 590/1978 dazu verpflichtet hat, die WSK-Rechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten, finden sich WSK-Rechte nicht in der österreichischen Bundesverfassung und im Grundrechtskatalog. Das führt dazu, dass die im IPwskR verankerten Menschenrechte im Einzelfall in Österreich nicht anwendbar sind. Auch das Individualbeschwerdeverfahren vor den Vereinten Nationen hat Österreich nicht ratifiziert, trotz entsprechender internationaler Empfehlungen. Anwält*innen, die sich auf den IPwskR stützen möchten, um einen Anspruch auf ein soziales Menschenrecht geltend zu machen, müssten daher zuerst einmal Überzeugungsarbeit leisten, dass dieser überhaupt in Österreich anwendbar ist. Das führt dazu, dass soziale Menschenrechte noch immer zu einem großen Teil als Programmsätze und Almosen verstanden werden und in diesem Kontext Menschen zu Bittsteller*innen werden. Amnesty International Österreich fordert die Erweiterung des Grundrechtskatalogs und die verfassungsrechtliche Verankerung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte.
Österreich zählt unbestrittenermaßen zu einem der höchst entwickelten Sozialstaaten weltweit. Der Wohlfahrtsstaat funktioniert zwar für viele und sichert die Menschen in Österreich hinsichtlich der Risiken des Lebens. Gerade aber dort, wo er nicht funktioniert, wird offensichtlich, dass die vorhandenen Grundrechte nicht ausreichend Orientierung für Politik, Verwaltung, aber auch die Gerichte geben. Der Grundrechtskatalog in Österreich ist im internationalen Vergleich kurz und relativ alt (1867, Staatsgrundgesetz als Hauptquelle) und legt den Fokus auf bürgerliche und politische Rechte. Die Regierung wird regelmäßig von Gremien der Vereinten Nationen und des Europarats daran erinnert, dass Handlungsbedarf besteht.
Auch die COVID-19-Pandemie und ihre gesellschaftspolitischen Auswirkungen haben gezeigt, dass das Recht auf Arbeit und der Zugang zu guter Gesundheitsversorgung in Österreich keine Selbstverständlichkeiten sind. Insbesondere Menschen, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind, wurden durch die Folgen der Pandemie stärker negativ belastet. Die Pandemie hat auch gezeigt, wie notwendig die Absicherung der sozialen Rechte für den Zusammenhalt in der Gesellschaft sind.
Ein moderner Grundrechtskatalog muss deutlich machen, welche Grundrechte und Ansprüche Menschen haben, selbst in Situation von individuellen Schicksalsschlägen oder Krisen und welche öffentliche Leistungen ihnen zustehen. Die Verankerung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte würde die Rechtssicherheit und Rechtsdurchsetzung für jene stärken, die um ein menschenwürdiges Dasein kämpfen müssen und derzeit zu Bittsteller*innen gemacht werden.
Durch die Verankerung in der Verfassung wäre außerdem sichergestellt, dass der Schutz und die Erfüllung dieser Rechte nicht dem Ermessen einzelner Regierungen überlassen werden, sondern einen rechtlichen Status als nationale Prioritäten erhalten, an den nachfolgende Regierungen gebunden sind.
Titelbild: Menschen in Kapstadt, Südafrika, protestieren gegen die Notlage der Gemeinden in Bezug auf Wohnraum, Beschäftigungsmöglichkeiten und öffentliche Dienstleistungen, Juli 2021.