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Mehr als 1,8 Milliarden Menschen weltweit leben in prekären Wohnverhältnissen oder haben gar keinen Wohnraum. Auch in Österreich sind Menschen von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen oder haben keinen Zugang zu leistbarem und sicherem Wohnraum. Wohnen wird häufig als Ware gesehen und nicht als ein Recht, auf das wir alle einen Anspruch haben. Um diesen Anspruch für alle Menschen durchzusetzen, müssen wir alle – und vor allem politische Entscheidungsträger*innen – das Thema Wohnen als Menschenrecht verstehen und behandeln. Denn es ist eine Grundvoraussetzung für ein menschenwürdiges Leben für alle und eng mit weiteren Menschenrechten verbunden. Wohnen gibt uns Stabilität und Sicherheit.
Jeder Mensch hat das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen.
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR), Artikel 11(1)
> Warum stellen Obdachlosigkeit und prekäres Wohnen Menschenrechtsverletzungen dar?
> Wie ist das Recht auf Wohnen menschenrechtlich verankert?
> Definitionen: Was ist der Unterschied zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit?
> Frauen in Wohnungs- und Obdachlosigkeit
Jeder Mensch hat ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Dazu gehört leistbarer und sicherer Wohnraum. Wohnungs- und Obdachlosigkeit verletzt dieses Grundprinzip eines Lebens in Würde und stellt somit eine Verletzung des Rechts auf angemessenes Wohnen dar.
Gleichzeitig sind viele weitere unserer Menschenrechte an das Recht auf Wohnen geknüpft: Wir alle brauchen angemessenen Wohnraum, um am öffentlichen Leben teilzuhaben, unserer Arbeit nachzugehen und möglichst gesund leben zu können. Das zeigt bereits: Beim Wohnen geht es um mehr, als nur „ein Dach über dem Kopf“ zu haben.
Ein angemessener Wohnraum ist das Recht eines jeden Menschen, in Sicherheit, Frieden und Würde leben zu können und beinhaltet daher sowohl Freiheiten als auch Ansprüche. Dazu zählt etwa, dass Bewohner*innen vor willkürlichen Eingriffen geschützt werden müssen – auch in informellen Siedlungen oder Notunterkünften.
Wohnraum muss nutzbar sein. Das heißt, die Bewohner*innen müssen über sicheres Trinkwasser, angemessene Sanitäreinrichtungen und Energie verfügen. Wohnen muss außerdem bezahlbar sein: Die Kosten für Wohnraum dürfen die Erfüllung unserer anderen Menschenrechte und Grundbedürfnisse nicht gefährden. Gleichzeitig muss auch die Wohnqualität angemessen sein. Bewohner*innen müssen vor Umwelteinflüssen, wie Kälte, Feuchtigkeit, Hitze, Regen, Wind und anderen Gefahren für die Gesundheit geschützt sein. Prekäre Wohnsituationen können direkte Gesundheitsrisiken darstellen oder indirekt die Gesundheit gefährden, zum Beispiel aufgrund ihrer Lage oder durch erschwerten Zugang zu Wasser, sanitären Einrichtungen oder Gesundheitsinfrastruktur.
Auch die Bedürfnisse von marginalisierten Gruppen müssen beim Zugang zu Wohnraum berücksichtigt werden. Der Zugang zu Wohnraum muss barriere- und diskriminierungsfrei sein.
Das Recht auf Wohnen ist bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) im Artikel 25 (1) verankert. Zwar ist das Recht auf Wohnen nicht als ein eigenständiger Artikel angeführt, es ist aber ein integraler Bestandteil für einen angemessenen Lebensstandard. Ein angemessener Lebensstandard, das Wohl und Gesundheit garantieren soll, ist wiederum eine Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben.
Auch im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR, UN-Sozialpakt) ist das Recht auf Wohnen verankert. Gemäß Artikel 11(1) hat jeder Mensch das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard „einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen.“
Zudem findet sich das Recht auf Wohnen auch in anderen Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen wieder. Zum Beispiel die Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frauen beinhaltet das Recht auf angemessenes Wohnen. Österreich hat sowohl den IPwskR als auch die Frauenrechtskonvention ratifiziert.
Auch regionale Menschenrechtsinstrumente verankern dieses Recht. Die revidierte Europäische Sozialcharta legt im Artikel 31 fest, dass Vertragsstaaten sich dazu verpflichten, die wirksame Ausübung des Rechts auf Wohnung zu gewährleisten. Österreich hat die Europäische Sozialcharta 1969 und die revidierte Fassung 2011 ratifiziert, jedoch nicht alle darin enthaltenen Rechte. So wurde Artikel 31, der das Recht auf Wohnen umfasst, von Österreich nicht ratifiziert.
Damit wir alle ein menschenwürdiges Leben führen können, sind unsere wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte unverzichtbar. Das sind jene Menschenrechte, die sich auf Arbeit, soziale Sicherheit, das Familienleben, die Teilhabe am kulturellen Leben oder auch den Zugang zu Wohnraum, Nahrung, Wasser, Gesundheitsversorgung und Bild beziehen. Wenn wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nicht ausreichend gesichert sind, kann das weitreichende Auswirkungen für die Menschen und die Ausübung ihrer weiteren Menschenrechte haben.
In Österreich, sowie in vielen anderen europäischen Ländern auch, kommt die sogenannte ETHOS Typologie zur Anwendung. Diese unterscheidet unter anderem zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit:
Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, leben an öffentlichen Plätzen, auf der Straße oder in Parks ohne jegliche Unterkunft. Auch Menschen, die ab und an in Notschlafstellen übernachten und keinen festen Wohnsitz haben, fallen unter diese Definition.
Menschen in Wohnungslosigkeit haben zwar keine Wohnung oder ein Haus, sind jedoch nicht ohne Obdach. Sie leben vorübergehend bei Familienmitgliedern oder Freund*innen oder in öffentlichen Einrichtungen, wie zum Beispiel Frauenhäuser oder Unterkünfte für asylansuchende Menschen.
Neben den beiden Definitionen ist ungesichertes Wohnen ein zentraler Begriff: Menschen, die eine vorübergehende Bleibe bei Freund*innen oder Verwandten (ohne Hauptsitz) finden oder die von Delogierungen bedroht sind, leben in ungesicherten Wohnverhältnissen. Aber auch Menschen, die in ihrer Wohnung von Gewalt betroffen sind, fallen in diese Kategorie.
Auch wenn es keine internationale Definition von Wohnungs- und Obdachlosigkeit gibt, nennen die Sonderberichterstatter*innen der Vereinten Nationen für angemessenes Wohnen Kriterien für eine internationale Definition. Diese umfassen drei Dimensionen: Die erste Dimension nimmt auf das materielle Fehlen eines Zuhauses samt sozialer Aspekte Bezug. Die zweite Dimension erkennt die systematische Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen, die von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffen sind, an. Die dritte Dimension bezieht Menschen, die Erfahrungen in der Obdach- und Wohnungslosigkeit haben, als zentrale Schlüsselpersonen, um Veränderungen in diesem Bereich zu schaffen, ein.
Das Recht auf Wohnen bedeutet nicht, dass Staaten dazu verpflichtet sind, allen Menschen eine Wohnung zu bauen und zur Verfügung zu stellen oder privaten Wohnbau zu verbieten. Es liegt aber in der staatlichen Verantwortung sicherzustellen, dass alle menschenrechtlichen Standards erfüllt sind. Beispielsweise muss der Staat sicherstellen, dass alle Menschen einen diskriminierungsfreien Zugang zu leistbarem Wohnraum haben. Das betrifft auch den privaten Mietsektor. Auch ist das Recht auf Wohnen nicht mit Wohnrecht, das die Nutzung eines Wohnraums regelt, zu verwechseln.
1,8 Mrd.
Menschen weltweit sind laut offiziellen UN-Statistiken obdachlos oder wohnen in prekären Verhältnissen.
23.000
leben laut Schätzungen in Obdach- und Wohnungslosigkeit.
25%
oder mehr ihres Einkommens geben ein Viertel der österreichischen Haushalte für Wohnen aus.
Das Recht auf Wohnen ist in Österreich nicht verfassungsrechtlich verankert und dadurch auch nicht gerichtlich überprüfbar. Trotz der fehlenden verfassungsrechtlichen Verankerung ist Österreich völkerrechtlich an die Umsetzung der im IPwskR verankerten Rechte, z.B. das Recht auf angemessenes Wohnen, durch die Ratifizierung des Paktes gebunden.
International wird Österreich trotz fehlender verfassungsrechtlicher Verankerung, als Positivbeispiel für gutes und leistbares Wohnen herangezogen. In Österreich, insbesondere in Wien, besteht ein System an (wohn- und sozial-)politischen Maßnahmen, bestehend aus Wohnbauförderungen und Wohnungslosenhilfen, die eine ausreichende Wohnversorgung und den Zugang zu diesem für die Bevölkerung gewährleisten soll.
Trotz der bestehenden Maßnahmen gibt es aber auch in Österreich Handlungsbedarf. Die Zahl der Menschen in Obdach- und Wohnungslosigkeit belief sich im Jahr 2020 in Österreich Schätzungen zufolge auf knapp 20.000. Etwa 31% davon waren Frauen. Eine genaue Erhebung, wie viele Menschen tatsächlich von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffen sind, gibt es jedoch nicht. Ein Grund dafür ist auch die sogenannte „versteckte Wohnungslosigkeit“. Vor allem Frauen versuchen ihre Wohnungslosigkeit zu verstecken, um dem sozialen Stigma zu entgehen. Das bedeutet, dass Menschen in versteckter Wohnungslosigkeit bei Partner*innen oder Familienmitgliedern leben und dadurch oft den Risiken von Ausbeutung ausgesetzt sind.
Besorgniserregend sind auch die hohen Wohnkosten in Österreich. Laut der Europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen 2020 (EU-SILC 2020), geben ein Viertel der österreichischen Haushalte 25% oder mehr ihres Einkommens für Wohnen aus. Neun Prozent der Haushalte haben sogar einen Wohnkostenanteil von über 40%, was eine sogenannte Wohnkostenüberlastung bedeutet.
Laut der EU-SILC 2020 Statistik geben dabei vor allem junge Menschen, Alleinerziehende oder Singles in Mietverhältnissen relativ viel für Wohnen aus (30% oder mehr ihres Einkommens). Menschen, die von einem Armuts- oder Ausgrenzungsrisiko betroffen sind, treffen die hohen Wohnkostenanteile besonders stark. Bei drohendem Einkommensverlust oder steigenden Wohnkosten wird Wohnen teilweise finanziell untragbar. Dabei kommt es meistens zu anderweitigen Einschnitten, beispielsweise wird auf Heizen im Winter verzichtet, um Kosten zu sparen.
Stereotype Vorstellungen über wohnungs- und obdachlose Menschen sind häufig männlich geprägt. Die Zuspitzung auf diese eine Bevölkerungsgruppe hat mit der Realität allerdings wenig zu tun. Wohnungs-und Obdachlosigkeit ist häufig direkt mit systematischen Diskriminierungsmustern verbunden, die in unverhältnismäßigem Umfang bestimmte Gruppen betreffen, neben Frauen auch besonders Jugendliche, Kinder, Menschen mit Behinderungen, Migrant*innen und Geflüchtete, Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit in Armut leben, und LGBTIQ-Personen.
In Folge der COVID-19-Pandemie haben viele Menschen ihre Arbeit verloren oder mussten in Kurzarbeit gehen. Dadurch ist das Armutsrisiko und der relative Wohnkostenanteil gestiegen. Diese sind in der EU-SILC Statistik noch nicht erfasst und Expert*innen gehen davon aus – auch basierend auf den Erfahrungen aus der Finanzkrise 2008 – dass die tatsächlichen sozio-ökonomischen Negativfolgen der Pandemie erst einige Jahre später zu spüren sein werden. Unmittelbare Folgen der Pandemie bahnen sich aber jetzt schon an. Mietstundungen mit vier Prozent Zinsen, die nun ausgelaufen sind, stellen viele Menschen vor große finanzielle Herausforderungen. Einkommensverluste in den letzten Monaten verstärken dieses Problem weiter. Politische Entscheidungsträger*innen sind daher gefragt, einer drohende Delogierungswelle und einem Anstieg and Wohnungs- und Obdachlosigkeit entgegenzuwirken und Maßnahmen zu setzen, die direkt bei den Menschen ankommen.
Die Wohnsituation eines Menschen ist außerdem einer der Schlüsselfaktoren, die ihre*seine Gesundheit beeinflussen, was sich auch in der COVID-19-Pandemie deutlich zeigte: Es ist fast unmöglich, sich selbst und andere vor einem Virus zu schützen, wenn man nicht über eine stabile und sichere Unterkunft verfügt. Auch für Menschen, die in prekären Unterkünften leben, ist das Risiko einer Ansteckung nicht wesentlich geringer. Viele Menschen weltweit haben keine andere Wahl, als sich in unmittelbarer Nähe zu anderen aufzuhalten und sich überfüllte Räumlichkeiten, Wasser- und Sanitäranlagen, zu teilen. Menschen, die in solchen Situationen leben und arbeiten, gehören bereits zu den am stärksten ausgegrenzten Gruppen der Gesellschaft, die häufig aus einem oder mehreren Gründen diskriminiert werden. Dazu zählen LGBTIQA-Personen, Kinder, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind, ältere Menschen, indigene Völker, Geflüchtete und Migrant*innen, Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft und ihrer Arbeit diskriminiert werden, Menschen mit Behinderungen sowie Frauen und Mädchen innerhalb dieser Gruppen.
In einigen Staaten wurden obdachlose Menschen bestraft, weil sie sich nicht an die Lockdown-Regeln halten konnten. Im Juni 2020 wies Amnesty International in einer Stellungnahme an den UN-Sonderberichterstatter für angemessenes Wohnen auf Maßnahmen einiger Staaten zum Thema Wohnen und Obdachlosigkeit im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie hin und forderte die Aussetzung von Zwangsräumungen.