
Tunesien: Menschenrechtsverteidigerin im Hungerstreik
3. Februar 2025Am 14. Jänner, dem 14. Jahrestag der tunesischen Revolution, kündigte die prominente Menschenrechtsverteidigerin Sihem Bensedrine einen unbefristeten Hungerstreik an, um gegen ihre seit August 2024 anhaltende willkürliche Inhaftierung zu protestieren. Sie ist nur wegen der Wahrnehmung ihrer Menschenrechte in Haft. Am 26. Januar musste sie wegen gesundheitlicher Komplikationen ins Krankenhaus gebracht werden. Am 28. Jänner erfuhren ihre Anwält*innen, dass ein tunesischer Ermittlungsrichter ihre Untersuchungshaft wegen mehrerer Anklagen um weitere vier Monate verlängert hat. Die Anklagen wurde erhoben, nachdem sie als Präsidentin der Kommission für Wahrheit und Würde (IVD) Korruption aufgedeckt hatte.
Es besteht große Sorge über die anhaltende willkürliche Inhaftierung der 74-jährigen Menschenrechtsverteidigerin Sihem Bensedrine. Am 14. Jänner kündigte sie einen unbefristeten Hungerstreik an, um gegen ihre willkürliche Inhaftierung zu protestieren. Ihre Anwält*innen teilten die Nachricht, in der sie ihren Hungerstreik auf ihrer Facebook-Seite ankündigt: "Ich werde die Ungerechtigkeit, die mir widerfährt, nicht länger hinnehmen. Gerechtigkeit darf sich nicht auf Lügen stützen, sondern auf konkrete, greifbare Beweise." Sie ist ausschließlich im Zusammenhang mit ihrer Arbeit als Vorsitzende der Kommission für Wahrheit und Würde (IVD) von 2014 bis 2018 inhaftiert, die die von den tunesischen Behörden zwischen 1955 und 2013 begangenen Verbrechen untersuchte und die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft vorlegte.
Gegen Sihem Bensedrine wird seit Februar 2023 ermittelt, nachdem ein ehemaliges IVD-Vorstandsmitglied Anzeige wegen Urkundenfälschung erstattet hatte, weil am IVD-Abschlussbericht Änderungen vorgenommen worden waren, nachdem er dem damaligen Präsidenten im Dezember 2018 vorgelegt worden war. Am 7. März 2023 erhob ein Untersuchungsrichter Anklage gegen Sihem Bensedrine wegen "Fälschung", "Betrug" und "Missbrauch der Amtsgewalt" und erteilte ihr ein Reiseverbot. Am 1. August 2024 ordnete der Richter Untersuchungshaft für Sihem Bensedrine an, und sie wurde noch am selben Tag in Gewahrsam genommen. Am 28. Januar 2025 teilte der Ermittlungsrichter ihren Anwält*innen mit, dass er ihre Untersuchungshaft um weitere vier Monate verlängert habe. Die strafrechtliche Verfolgung von Sihem Bensedrine scheint eine Form der Vergeltung für die Arbeit des IVD zu sein, der Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch frühere tunesische Behörden aufgedeckt hat.
Seit Beginn ihres Hungerstreiks hat sich der Gesundheitszustand von Sihem Bensedrine rapide verschlechtert. Sie leidet unter Schwäche und Sauerstoffmangel, so dass sie in der Krankenstation des Gefängnisses beatmet werden musste. Am 26. Januar wurde sie in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses verlegt, da sich ihr Gesundheitszustand weiter verschlechterte. Sihem Bensedrines Vorerkrankungen, darunter Bluthochdruck und Herzprobleme, machen sie noch anfälliger.
Hintergrund
Sihem Bensedrine ist eine für ihren unabhängigen Journalismus und ihre Menschenrechtsarbeit unter der Regierung von Ben Ali bekannte Menschenrechtsverteidigerin. Seit der Machtergreifung von Präsident Kais Saied im Juli 2021 übt sie offen Kritik an Maßnahmen, die die Rechtsstaatlichkeit und juristische Unabhängigkeit Tunesiens aushöhlen. Sihem Bensedrine war von 2014 bis 2018 Vorsitzende der IVD, einer Organisation, die dazu geschaffen wurde, Menschenrechtsverletzungen, die zwischen 1955 bis 2013 von Staatsbediensteten begangen wurden, zu dokumentieren und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die IVD war befugt, schwere Fälle an Sonderstrafkammern der Übergangsjustiz zu verweisen.
Im Dezember 2018 schloss die IVD ihre Arbeit ab und verwies 205 Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Korruption zur Strafverfolgung an die 13 Sonderstrafgerichte in Tunesien. In einer Reihe von Fällen ging es um Korruptionsvorwürfe innerhalb des Bankensektors. Zu den Personen, die von der IVD verschiedener Korruptionsdelikte beschuldigt wurden, gehören ehemalige Minister*innen, hochrangige Geschäftsleute, ehemalige Gouverneur*innen der Zentralbank, hochrangige Mitarbeiter*innen der staatlichen Banken und Regierungsbeamt*innen.
Das Mandat der IVD, die im März 2014 mit einem vierjährigen (um ein Jahr verlängerbaren) Mandat eingerichtet wurde, wurde trotz Widerstands bis Ende 2018 verlängert. Am 28. Dezember 2018 informierte die Vorsitzende die IVD über die bevorstehende Veröffentlichung ihres Berichts am 31. Dezember. Um die Frist einzuhalten, verabschiedete der IVD-Vorstand unter dem Vorsitz von Sihem Bensedrine am 30. Dezember 2018 einen vorläufigen Bericht, bei dem noch Änderungen ausstanden. Der endgültige Bericht wurde am 26. März 2019 auf der Website der IVD und am 24. Juni 2020 im offiziellen Amtsblatt (JORT) veröffentlicht. Während ihres gesamten Mandats sah sich die IVD mit Versuchen konfrontiert, ihre Arbeit zu torpedieren. So fehlte es an einer umfassenden Zusammenarbeit mit Regierungsbehörden wie dem Innen- und dem Verteidigungsministerium.
Im Mai 2020 reichte ein ehemaliges Mitglied der IVD bei der staatlichen Antikorruptionsbehörde eine Beschwerde gegen Sihem Bensedrine ein und beschuldigte sie darin der "Fälschung des Abschlussberichts". Sie soll einen Abschnitt über Korruption im tunesischen Bankensystem eingefügt haben, insbesondere über einen Streit zwischen der Regierung und der Banque Franco-Tunésienne (BFT). Der Beschwerde zufolge habe sie aus persönlichem Interesse gehandelt, da der hinzugefügte Abschnitt kostspielige Entschädigungszahlungen für die Regierung mit sich bringen könnte. Im März 2021 verwies die Antikorruptionsbehörde die Beschwerde an die Generalstaatsanwaltschaft in Tunis.
2021 leitete die Abteilung für Wirtschaftskriminalität der Kriminalpolizei Ermittlungen zur Beschwerde ein und berief Mitglieder der IVD zur Vernehmung ein. In der Beschwerde wurde behauptet, die in die vorläufige Fassung des Berichts eingefügten Änderungen im Kapitel zur Korruption im Bankensystem kämen einer "Fälschung" gleich, mit der Absicht, "dem tunesischen Staat Schaden zuzufügen".
Im Rahmen dieser Ermittlungen wurde Sihem Bensedrine am 22. November 2022 von einem*einer Ermittlungsrichter*in aus dem Bereich für Wirtschafts- und Finanzkriminalität als Zeugin vernommen. Am 20. Februar 2023 beantragte die Staatsanwaltschaft bei dem*der Ermittlungsrichter*in eine Strafanzeige gegen Sihem Bensedrine wegen "Ausnutzung ihrer Stellung zur Erlangung unrechtmäßiger Vorteile, Schädigung der Verwaltung zur Erlangung eines Vorteils sowie Fälschung und Verwendung gefälschter Dokumente" gemäß Paragraf 32, 96, 98, 172, 175, 176 und 177 des Strafgesetzbuchs. Am 2. März 2023 änderte der*die Ermittlungsrichter*in den Status von Sihem Bensedrine im Rahmen der Ermittlungen von einer Zeugin zur Verdächtigen. Am 7. März 2023 erließ der*die Richter*in ein Reiseverbot gegen Sihem Bensedrine.
Am 1. August 2024 ordnete ein*e Ermittlungsrichter*in aus dem Bereich für Wirtschafts- und Finanzkriminalität am Gericht erster Instanz in Tunis nach einer Anhörung mit dem*der Ermittlungsrichter*in die Untersuchungshaft gegen Sihem Bensedrine unter denselben Anschuldigungen an. Die strafrechtlichen Vorwürfe gegen Sihem Bensedrine, die von ihr abgestritten werden, stützen sich auf die Behauptungen des ehemaligen IVD-Mitglieds, das die Beschwerde eingereicht hat. Die Staatsanwaltschaft hat keine konkreten Beweise vorgelegt, um die Anordnung der Untersuchungshaft oder die strafrechtlichen Ermittlungen angesichts dieser schwerwiegenden Anschuldigungen zu rechtfertigen. Die Inhaftierung von Sihem Bensedrine verstößt gegen die internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren.
Da die Staatsanwaltschaft bisher konkreten Beweise für eine kriminelle Handlung vorgelegt hat, die mit den Änderungen am IVD-Bericht in Zusammenhang stehen könnten, scheint es sich bei der Anklage gegen Sihem Bensedrine um eine Vergeltungsmaßnahme für ihre Arbeit als Vorsitzende der IVD und insbesondere für die im IVD-Abschlussbericht enthaltenen Meinungen oder Fakten und die vom IVD eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen gegen mutmaßliche Verantwortliche zu handeln.
Im Mai 2023 äußerten Menschenrechtsexpert*innen der Vereinten Nationen ihre Besorgnis darüber, dass es sich bei der Strafverfolgung von Sihem Bensedrine um eine Vergeltungsmaßnahme angesichts ihrer Rolle bei der IVD und den von der Kommission untersuchten Korruptionsfällen zu handeln scheint. Internationale Standards verpflichten Staaten, das Recht auf Wahrheit über schwere Menschenrechtsverletzungen durch außergerichtliche Mittel wie Wahrheitskommissionen zu gewährleisten und IVD-Mitglieder vor Diffamierung oder rechtlichen Schritten im Zusammenhang mit ihrer Arbeit zu schützen.
Bitte bis 28. Juni 2025 unterschreiben.