© Bericht "Not a private matter" / Alevtina Kakhidze 2020 / Amnesty International
© Bericht "Not a private matter" / Alevtina Kakhidze 2020 / Amnesty International
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WEITVERBREITETE GEWALT GEGEN FRAUEN IN DEN KONFLIKTGEBIETEN

14. November 2020

Im Osten der Ukraine erhalten Überlebende von häuslicher Gewalt aufgrund der wirkungslosen Maßnahmen der Regierung keinen angemessenen Schutz. Zu diesem Schluss kommt Amnesty International in einem am 11. November veröffentlichten Bericht über das versteckte, aber ausufernde Problem von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen in der Region.

Aufbauend auf sechs Vor-Ort-Recherchen von Amnesty International beleuchtet der Bericht «Not a private matter: Domestic and sexual violence in eastern Ukraine» zahlreiche Fehler in dem System, das die Überlebenden von häuslicher und sexualisierter Gewalt – überwiegend Frauen – eigentlich schützen sollte. Die Situation wird zusätzlich verschärft durch die schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Krisensituationen, den Zugang zu Waffen sowie durch das Trauma aufgrund des anhaltenden bewaffneten Konflikts zwischen der ukrainischen Regierung und den von Russland unterstützten Separatisten.

Olga Pokalchuk, die Direktorin von Amnesty International Ukraine: "Es ist zum Verzweifeln, dass Frauen, deren Leben bereits durch Traumata und die Zerstörungen in Folge des Konflikts schwer belastet ist, keine Unterstützung erhalten. Die Behörden haben die Pflicht, sie vor häuslicher und sexualisierter Gewalt zu schützen, nehmen diese Verantwortung aber nicht wahr. Frauen, die in der Konfliktzone in der östlichen Ukraine leben, fühlen sich nicht sicher – weder in der Öffentlichkeit noch zuhause."

Es ist zum Verzweifeln, dass Frauen, deren Leben bereits durch Traumata und die Zerstörungen in Folge des Konflikts schwer belastet ist, keine Unterstützung erhalten.

Olga Pokalchuk, Direktorin von Amnesty International Ukraine

Zwischen Jänner und November 2019 besuchte Amnesty International die von der Regierung kontrollierten Regionen Donezk und Luhansk. Bislang hatte Amnesty keinen Zugang zu den von den Separatisten kontrollierten Gebieten. Diese Gebiete wurden deshalb nicht in den Bericht aufgenommen.

Obwohl die offiziellen Statistiken über häusliche Gewalt unzuverlässig und unvollständig sind, wird in den letzten drei Jahren doch einen großen Anstieg angezeigter Fälle deutlich. Im Jahr 2018 nahm die Anzahl angezeigter Fälle im Vergleich zum Durchschnitt der vorherigen drei Jahre in der Region Donezk um 76 Prozent und in der Region Luhansk sogar um 158 Prozent zu.

Regierungsinitiativen zu häuslicher Gewalt ohne Wirkung

In den vergangenen drei Jahren hat die Ukraine eine neue Gesetzgebung sowie neue institutionelle Rahmenbedingungen für geschlechtsspezifische Gewalt geschaffen, die im Allgemeinen mit den internationalen Menschenrechtsnormen in Einklang stehen. Die neuen Gesetze und Initiativen werden jedoch kaum umgesetzt und die Ukraine hat das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) noch immer nicht ratifiziert.

Die Polizei bearbeitet Anzeigen zu häuslicher Gewalt nach wie vor nur widerwillig. Es herrscht weitgehende Straflosigkeit, die viele Betroffene davon abhält, die Gewalt öffentlich zu machen. In zehn von den 27 im Bericht dokumentierten Fällen meldeten die Frauen die erlebte Gewalt nicht der Polizei, weil sie glaubten, dass die Behörden die Anzeigen nicht oder nicht angemessen bearbeiten würden.

In einem Fall erstattete eine schwangere Frau keine Anzeige gegen ihren Ehemann, der sie geschlagen hatte und zur Tatzeit als Soldat diente. Sie entschied, dass es sinnlos sei, da sie von der Militärführung bei einer vorherigen Anzeige – als ihr Mann ihr die Nase gebrochen hatte – dazu gedrängt worden war, den Vorwurf zurückzuziehen, um "ihren Ehemann nicht zu beschämen".

Überlebende gefährdet und ohne Schutz

Die neue Gesetzgebung der Ukraine befugt die Polizei, sogenannte Notfallschutzmaßnahmen zu ergreifen. Diese verbieten Tätern, ein Gebäude und Gelände, auf dem sich Überlebende der von ihnen verübten Gewalt aufhalten könnten, zu betreten und sich dort aufzuhalten. Sie dürfen die Überlebenden während zehn Tagen auch nicht kontaktieren. Dieses Annährungsverbot wurde in den von Amnesty dokumentierten Fällen jedoch selten ausgesprochen und wenn, dann wurde es nicht wirksam durchgesetzt.

Trotz positiver Entwicklungen in der nationalen Gesetzgebung bleiben weiterhin Lücken im Opferschutz bestehen. In der Ukraine fällt häusliche Gewalt sowohl unter das Verwaltungsrecht als auch unter das Strafrecht. Zurzeit kann ein Strafverfahren erst eingeleitet werden, wenn bereits zwei Verwaltungsstrafen gegen die Person verhängt wurden.

Zudem sind Mitglieder des Militärs und der Polizei von Verwaltungsverfahren vor Zivilgerichten ausgenommen. Dies schützt sie wirkungsvoll vor jedweder Strafverfolgung wegen häuslicher Gewalt.

Sexualisierte Gewalt durch Angehörige des Militärs

Die Recherchen von Amnesty International zeigen, dass Frauen in der östlichen Ukraine nach wie vor sexualisierte Gewalt durch Angehörige des Militärs erleben, vor allem in den Gebieten, in denen die gegnerischen Parteien aufeinandertreffen.

Amnesty International hat acht Fälle von sexualisierter Gewalt an Frauen und Mädchen durch Militärangehörige dokumentiert. In zwei Fällen handelte es sich um Vergewaltigung, in einem Fall um versuchte Vergewaltigung und in fünf Fällen um sexualisierte Belästigung. All diese Taten wurden zwischen 2017 und 2018 von Angehörigen des Militärs in Wohngebieten verübt.

"Die ukrainischen Behörden müssen rasche und umfassende rechtliche Reformen durchführen, die nicht das Militär, sondern die Überlebenden von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt schützen! Diese Reformen können nur erfolgreich sein, wenn ihnen echte Konsultationen mit Überlebenden und Frauenrechtsorganisationen vorangehen", so Olga Pokalchuk.

Die ukrainische Regierung hat in den letzten Jahren die Bereitschaft gezeigt, das Problem der Gewalt gegen Frauen anzugehen. Jetzt  muss sie ihre Bemühungen verstärken. Die Ukraine sollte die Istanbul-Konvention ratifizieren, weil sie den Behörden einen klares Vorgehen für die nötigen Reformen aufzeigt. Darunter fallen die weitere Verbesserung der Gesetzgebung, Aufklärungsprogramme für BeamtInnen und die Öffentlichkeit, ein Mechanismus zur Berichterstattung, der Regierung und andere wichtige Reformen.