„Ungerechtigkeiten nehme ich persönlich“
18. April 2017Ein Interview mit Annemarie Schlack
Annemarie Schlack ist seit Mai 2016 Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich. Mit den Arbeitsschwerpunkten Menschenrechte, Entwicklungspolitik und globale Vernetzung war sie zuvor 12 Jahre lang in internationalen NPOs tätig. Sie verfügt über besondere Kenntnisse im strategischen und Change Management sowie in Kampagnen und Networking.
Für die Menschen, die dich noch nicht kennen: Wer bist du? Wofür brennst du?
Ich bin Humanistin aus Überzeugung und Menschenrechtlerin aus Pragmatismus. Für mich sind Menschenrechte Werte, die uns verbinden, die Grundlage unseres Zusammenlebens. Ich bin unglaublich dankbar dafür, dass wir in Österreich vor Folter und Todesstrafe sicher sind, unsere Meinung sagen können, vor dem Gesetz gleich behandelt werden, demonstrieren gehen, eine Religion ausüben können – das ist bei Weitem nicht überall eine Selbstverständlichkeit.
Es macht mich traurig und wütend, dass in Österreich und vielen anderen Ländern die Wichtigkeit dieser Menschenrechte in letzter Zeit wieder ganz offen und unverblümt in Frage gestellt wird.
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Amnesty International steht für Menschenrechte und damit für das, was uns als Menschen verbindet. Als Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich möchte ich die Bedeutung der Menschenrechte für alle – egal welcher Herkunft, Religion oder Geschlecht – wieder mehr ins Bewusstsein rücken.
Die Menschenrechte sind in den Hintergrund geraten. Was braucht es, um sie nach vorne zu holen?
Es braucht Menschen wie die über 80.000 Mitglieder, Aktivist*innen und Unterstützer*innen von AIÖ, die ihre Rechte und die ihrer Mitmenschen verteidigen. Deshalb ist es mir so wichtig, dass Amnesty International noch viel mehr Menschen mobilisiert, denn je größer unsere Bewegung ist, desto mehr können wir für die erreichen, die diskriminiert, verfolgt, gefoltert oder vertrieben werden. Diese tausenden Einzelschicksale werden von Menschen verursacht, es sind keine von Naturgewalten hervorgerufenen Tragödien.
Wenn wir diese Ungerechtigkeiten daher persönlich nehmen und gemeinsam die Einhaltung der Menschenrechte fordern, können wir erreichen, dass wir in unserer Würde und in unserer Daseinsberechtigung alle gleich sind. Welche Alternative gibt es dazu? Genau – gar keine.
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Viele in Österreich engagieren sich bereits für andere und wollen wissen, dass ihr Beitrag sichtbar und wirksam ist. Wir von AIÖ werden noch mehr auf sie zugehen und gemeinsam weitere, auch neue Wege finden, Menschen und ihre Rechte zu verteidigen. Zum Beispiel durch Workshops in Schulen, Kurse der Amnesty Academy, Veranstaltungen in den Bundesländern oder durch unsere Gruppen und Netzwerke von ehrenamtlichen Aktivist*innen. Ganz besonders möchte ich dazu einladen, sich an den zwei Kampagnen zu beteiligen, die wir 2017 starten: eine für Menschen auf der Flucht, die andere für Menschenrechtsverteidiger*innen. Wir müssen auf Populismus, Hetze und Hass JETZT antworten – daher: macht mit, informiert euch, zum Beispiel bei der AIÖ Mitgliederversammlung im April!
Woher kommt dein Engagement?
Seit ich mich erinnern kann, bin ich bei Ungerechtigkeiten wütend geworden und habe mich für Menschen engagiert, so zum Beispiel mit 15, als ich Veranstaltungen für Vertriebene des Bosnienkrieges organisiert habe.
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Ein Jusstudium schien da eine klare Wahl, meine Liebe für internationales Recht und Menschenrechte hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.
Ein Jahr in New York hat mich dann entscheidend geprägt. Als erste Österreicherin habe ich beim Global Policy Forum, einer NGO, die die Arbeit der Vereinten Nationen beobachtet, mitgearbeitet. Unser Büro lag direkt vis-a-vis der UNO. Ich habe jeden Tag von meinem Fenster aus die Fahnen aller Länder vor mir gehabt – da habe ich den Begriff Gerechtigkeit für mich ganz konkret verortet.
In informellen Settings habe ich UN-Sicherheitsratsmitglieder getroffen, die ihre persönliche Sicht der globalen Situation dargelegt haben. Damit war der Sicherheitsrat als zentraler Ort, wo über das Schicksal von Millionen von Menschen verhandelt wird, auf einmal für mich begreifbar. Bei mir ist die pure Faszination entbrannt für die Vereinten Nationen als einzigartiger Begegnungsraum für die globale Verständigung zwischen Menschen.
Nach den Anschlägen des 11. September 2001, die ich in New York erlebt habe, bin ich nach Bradford, England, gezogen, um Konfliktlösung zu studieren. Ich wollte politische Systeme besser verstehen und wie es Einzelne – durch Diplomatie und durch die Anwendung von internationalem Recht – schaffen können, etwas darin zu bewegen.
Im Moment wird die UNO als sehr schwach angesehen und der Sicherheitsrat kritisiert.
Und trotzdem ist es das beste System, das wir zur Verfügung haben. Es funktioniert auch wirklich, wie wir zum Beispiel vor Kurzem an der Sicherheitsratsresolution zu Gambia gesehen haben – für mich ein gelungenes Beispiel von Friedensarbeit, sowohl in New York als auch in Westafrika.
Wo setzt du bei Verhandlungen an?
Die Lösung für Probleme findet sich oft darin, die Haltungen einzelner Personen zu verstehen. Was braucht mein Gegenüber in diesem Moment, was ist das Bedürfnis hinter den Positionen? Das Bedürfnis, verstanden zu werden, ist oft sehr stark. Wenn ich daher wirklich verstanden habe, was mein Gegenüber braucht, ist schon viel gewonnen. Wir sind heute sehr schnell damit, auf Argumente mit Gegenargumenten zu antworten. Wesentlich ist jedoch, die andere Person wirklich zu begreifen, auch wenn ich nicht die Meinung teilen muss.
Wenn ich dein Bedürfnis nach Sicherheit, nach Überleben, nach Familie – deine Menschenrechte – verstehe und anerkenne, dann können wir miteinander verhandeln und eine Lösung finden, die für alle passt.
Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Aber wir erleben gerade auch in Österreich, dass die Bevölkerung auseinanderdriftet.
Jemanden zu entmenschlichen kann eine Strategie sein, um es sich einfacher zu machen. Die schrecklichen Bilder von Menschen auf der Flucht im letzten Jahr haben uns alle sprachlos gemacht. Sie gehen an die Grenzen dessen, was wir ertragen können. Aber ich kann niemandem helfen, wenn ich nur in Mitleid versinke. Viele sagen daher: Ich kann da nicht mehr hinschauen und ich nehme mein Gegenüber nicht mehr als einzelnen Menschen wahr, sondern nur als undifferenzierte Gruppe. Genau deshalb wird es wieder wichtiger, sich auf die Grundlage für unser gemeinsames Handeln zu besinnen.
Was kann Amnesty International dazu beitragen, dass sich das ändert?
Hier und jetzt entscheidet sich mit jeder und jedem Einzelnen von uns die Richtung, die wir als Gesellschaft einschlagen wollen. Denn wenn erst einmal einzelne Rechte für bestimmte Gruppen außer Kraft gesetzt sind, ist es mit dem Schutz für uns alle nicht mehr weit.
Wir werden wie bisher Regierungen an ihre Versprechen erinnern, die sie zur Einhaltung der Menschenrechte gegeben haben. Und wir möchten mehr Menschen ermutigen, sich für unsere gemeinsamen Menschenrechte einzusetzen – durch Aktionen, die zum Mitmachen einladen, Social Media Tools, die einfach in der Anwendung sind, und durch die Schaffung von Raum für Begegnungen.