© Cesare Davolio
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82.000 Verschwundene, 14.000 Foltertote

16. November 2018

Systematische Folter bis hin zum Tod nach massenhaften willkürlichen Verhaftungen und "Verschwindenlassen" bleiben auch nach dem absehbaren Kriegsende in Syrien weiter eine große Gefahr für die Zivilgesellschaft in Syrien.

Setz dich ein für die "Verschwundenen"

Es ist zu erwarten, dass das Regime von Bashir al-Assad diese Praxis im großen Stil weiter führt oder sogar intensiviert, um seine Macht in der Nachkriegsära zu festigen. Menschen, die sich im Krieg zivilgesellschaftlich engagierten, etwa humanitäre Nothilfe leisteten, staatliche Infrastruktur ersetzten, Bildungsprojekte initiierten und Menschenrechtsverletzungen dokumentierten, sind besonders gefährdet.

Das betrifft auch alle wehrpflichtigen Männer, die sich dem Wehrdienst entzogen oder den Militäreinsatz gegen die Zivilgesellschaft verweigerten. Für all jene gibt es bald keine Verstecke in Syrien mehr, wenn die Assad-Regierung und ihre Sicherheitsdienste wieder die Kontrolle über alle Regionen ausüben. Auch die Nachbarländer haben die Grenzen inzwischen komplett abgeriegelt und nehmen keine Flüchtlinge mehr auf. Grenzübertritte in die Nachbarländer, zum Beispiel in die Türkei, sind lebensgefährlich geworden. Diese Grenzschließungen sind eine Folge der restriktiven Asylpolitik in der EU. Die EU hat nach und nach alle Fluchtwege nach Europa geschlossen und zudem Abkommen mit Syriens Nachbarländern abgeschlossen, um Flüchtlinge an der Weiterreise zu hindern oder zurückweisen zu können.

Massenhafte Tötungen durch Folter. Obwohl eine genaue Angabe aufgrund der schwierigen Recherche-Bedingungen nicht möglich ist, kommen verschiedene Menschenrechtsorganisationen zu ähnlichen Zahlen. So schätzten die Datenanalysten von Amnesty die Zahl der durch Folter und unmenschliche Haftbedingungen getöteten Gefangenen bereits 2016 für den Zeitraum 2011 - 2015 auf über 17.000 Todesopfer ein. Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) kam basierend auf Zeug*innenaussagen und Interviews mit Familienangehörigen auf etwa 14.000 Tote zwischen 2011 und 2018. Außerdem wurden zwischen 2011 - 2015 allein im Militärgefängnis Saydnaya durch heimliche extralegale Massenexekutionen bis zu 13.000 Menschen getötet. Amnesty geht davon aus, dass die Praxis von willkürlichen Verhaftungen, „Verschwindenlassen“, Folter mit Todesfolge und Massenexekutionen sowohl in Saydnaya als auch in anderen Gefängnissen ungehindert anhält und von höchster staatlicher Stelle legitimiert wird. Neben der Assad-Regierung sind aber auch weitere Kriegsparteien verantwortlich für dieselben Verbrechen. Die Opfer beider Seiten, sowohl der staatlichen Täter wie der Täter aus den Reihen der bewaffneten Opposition (insbesondere von den dschihadistischen Gruppen ISIS und Hay‘at Tahrir al Sham) sind überwiegend Zivilpersonen.

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Als Totenschein wieder aufgetaucht. Der Terror gegen die eigene Bevölkerung folgt einem oft wiederholten Muster: Die Opfer werden willkürlich, also ohne Vorlage eines Haftbefehls, verhaftet und verschwinden dann in geheimen Haftorten. Dort sind die Gefangenen dann ohne Kontakt zur Außenwelt schutzlos und ohne Zeug*innen von außerhalb Folter  und unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt. Ihre Familien erfahren nichts über ihren Verbleib. Auch ihr Tod wird den Angehörigen nicht mitgeteilt. Damit ist das Verschwindenlassen auch psychische Folter für die Familien.

Wenn jemand im Gefängnis ist, dann weißt du, wo er ist. Wenn jemand getötet wurde, weißt du, er ist tot. Aber das – er ist zwischen dem Gefängnis und dem Grab. Wir haben keine Ahnung, wo er ist. Das ist das Schlimmste.

Mutter eines Verschwundenen. Aus: BETWEEN PRISON AND THE GRAVE. ENFORCED DISAPPEARANCES IN SYRIA, Amnesty-Bericht 2015

Nach Berechnungen des SNHR befanden sich im August dieses Jahres von allen seit 2011 willkürlich verhafteten Menschen noch 127.593 Syrer*innen in staatlichem Gewahrsam, die meisten von ihnen, 81.652 Gefangene „verschwanden“ jedoch kurz nach ihrer Verhaftung. „Verschwinden“ heißt hier, dass sie an einen unbekannten Ort gebracht wurden, die Häftlinge aus den offiziellen Haftregistern gestrichen wurden und Familienangehörige keine Auskunft über sie erhalten.

In anderen Fällen leugnen die Sicherheitsdienste, dass sie (noch) in ihrem Gewahrsam sind. Seit Mai dieses Jahres korrigieren die syrischen Behörden jedoch stillschweigend die zivilen Register und tragen Todesdatum und Todesort von in Haft getöteten „Verschwundenen“ ein. In den Totenscheinen steht - wenn überhaupt - nur eine allgemeine Todesursache wie Atem- oder Herzstillstand. Die Angehörigen erfahren davon oft zufällig, wenn sie aus anderem Anlass Papiere aus dem zivilen Register beantragen.

Informationen zu den genauen Todesumständen erhalten sie nicht. Auch die Leichname ihrer toten Familienangehörigen werden nicht herausgegeben. Das SNHR recherchierte bis August diesen Jahres 836 Fälle solcher „Korrekturen“ in den zivilen Registern, die meisten der nun für tot erklärten Verschwundenen wurden bereits zwischen 2011 und 2012 verhaftet und starben ein bis zwei Jahre später.

Amnesty International bestätigte im Juli 2018 bereits 161 derartige Todesmeldungen, drei von ihnen waren zuvor Einzelfälle von Amnesty. Der stille Verwaltungsakt der syrischen Behörden ist ein Eingeständnis, dass die syrische Regierung für das Verschwindenlassen verantwortlich war und die Toten in staatlichem Gewahrsam starben. In Syrien wurde das "Verschwindenlassen", ebenso wie Folter und extralegale Exekutionen in Haft auch in der Vergangenheit zur Einschüchterung der Zivilbevölkerung eingesetzt.

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Kapital aus dem Leid der Familien. Amnesty berichtete bereits 2015 über ein Erpressungssystem, das offenbar die Verzweiflung der Angehörigen von Verschwundenen als Einkommensquelle für das Regime nutzte. Dabei verlangten „Mittelsmänner“ hohe Geldsummen von verzweifelten Familien und versprachen im Gegenzug Informationen zum Verbleib oder sogar die Freilassung ihrer Angehörigen. Dieses Versprechen wurde aber in den wenigsten Fällen eingehalten. Ein Anwalt berichtete Amnesty, dass die Assad-Regierung die mit dem Leid der Angehörigen erpressten Gelder bereits als feste Einkommensquelle kalkuliere.

In Syrien herrscht beim Thema Folter absolute Straflosigkeit. Obwohl Syrien zur Strafverfolgung der Täter verpflichtet ist, wird Folter in Syrien von oben verordnet - strafrechtlich nicht verfolgt.

Folter als Fluchtgrund. In Syrien befanden sich nach Angaben des UNHCR 2017 innerhalb des Landes 6 Millionen Menschen auf der Flucht (Binnenflüchtlinge), in den Nachbarländern Libanon, Jordanien, Türkei und in Nordafrika registrierte das UN-Flüchtlingshilfswerk 5,6 Millionen syrische Flüchtlinge. Die Zahlen der innerhalb der Region geflüchteten Syrer*innen liegen höher, da viele ohne Registrierung in Nachbarländer flohen. Die meisten Flüchtlinge pro Kopf nahm der Libanon auf. Mit 1,5 Millionen Syrer*innen bei einer Einwohnerzahl von 4 Millionen liegt das kleine Land weltweit an der Spitze in der Aufnahme von Flüchtlingen.

Syrien war auch 2017 der größte Fluchtverursacher im internationalen Vergleich. Bei der Flucht landen neun von zehn Flüchtlingen (85 %) in Entwicklungsländern - meist sind das Nachbarländer. Deutschland nahm seit 2011 bis zum Jahresende 2017 insgesamt rund 800.000 Menschen aus Syrien auf. In Österreich stellten 2015 etwa 25.000 Syrer*innen Asylanträge.

Fluchtgründe von Syrer*innen. In einer Umfrage, die von der NGO „Adopt a Revolution“ 2015 unter knapp 900 Syrer*innen in Deutschland durchgeführt wurde, nannten 92 Prozent das Kriegsgeschehen und 87 Prozent Angst vor Verhaftung oder Entführung als Hauptfluchtgründe. Von diesen nannten 77 % der Befragten Angst vor Verhaftung durch staatliche Sicherheitskräfte und 42 % die Gefahr einer Entführung durch die dschihadistische Gruppe ISIS als Fluchtgrund (Mehrfachnennungen möglich).

Die meisten gaben an, dass sie nach Kriegsende zurückkehren wollen, aber nicht können, falls die Assad-Regierung weiter an der Macht sein sollte. Die Gefahr willkürlicher Verhaftung, Folter und Tod würde mit der Assad-Regierung weiter bestehen.

Information zusammengestellt von der Themenkoordinationsgruppe gegen Folter, Amnesty Deutschland